Frankfurt a. M. (epd). Dass Lydia Dietz arbeitssüchtig war, hat sie lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Als ihre Therapeutin einmal den Verdacht äußerte, lachte Dietz und entgegnete: „Auf keinen Fall. So gerne arbeite ich doch gar nicht.“ Lydia Dietz heißt eigentlich anders. Da Suchterkrankungen schambehaftet seien, wolle sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen, sagt sie.
Die Pädagogin habe sich stets über die Arbeit definiert, erzählt sie. Bereits in ihrer Kindheit sei ihr Selbstwert stark von ihrer Leistung abhängig gewesen. „Ich wurde gelobt für gute Noten in der Schule. Daher wurde es wichtig, gut zu sein. Dann hatte ich etwas, worauf ich stolz sein konnte“, sagt sie. Sie studierte Germanistik und Anglistik. „Ich war sehr ehrgeizig und perfektionistisch“, erinnert sie sich. Bis zu ihrer Pension vor rund sechs Jahren arbeitete sie als Lehrerin in Wien.
Ihr Arbeitspensum sei oft enorm gewesen. „Ich habe viel gearbeitet, um mich nicht selbst zu spüren“, sagt die 65-Jährige. Im Fokus stand für sie immer der Druck, auch der zeitliche. „Ich hatte immer diesen Drang, Neues auszuprobieren, und habe viele Aufgaben angehäuft.“ Sie habe sich regelrecht nach Überforderung gesehnt.
Können nicht abschalten
Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung vom April arbeitet jeder zehnte Erwerbstätige in Deutschland „suchthaft“. Betroffene hätten häufig mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Sie arbeiteten nicht nur bis spät in die Nacht, sondern auch mit hohem Druck und an unterschiedlichen Aufgaben gleichzeitig und könnten oft nicht abschalten oder entspannen.
Der Diplom-Psychologe Stefan Poppelreuter beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Arbeitssucht. Der Experte für Abhängigkeitserkrankungen stellt klar: „Bei der Arbeitssucht geht es mitnichten nur um eine 'Erwerbsarbeitssucht'.“ Es handele sich vielmehr um eine „Tätigkeitssucht“. Diese kann von Betroffenen auch außerhalb des Arbeitslebens, beispielsweise in der Freizeit oder auch bei der Garten- oder Hausarbeit ausgelebt werden.
In der Böckler-Studie werden vor allem Führungskräfte als arbeitssuchtgefährdet benannt. Nach Poppelreuters Einschätzung weisen auch helfende Berufe, etwa in der Pflege oder im Sozialwesen, eine erhöhte Gefährdung auf.
Lydia Dietz sieht Forderungen der jungen Generation nach einer besseren Work-Life-Balance und nach flexiblen Arbeitszeitmodellen wie der Vier-Tage-Woche positiv. „Die Arbeitswelt steht kopf, vieles ändert sich aktuell. Aber in meiner Generation war das leider noch anders.“ Damals sei viel Arbeit als etwas Gutes und viel Freizeit als etwas Schlechtes angesehen worden. Viele hätten sich kaum Pausen erlaubt, aus Angst als faul abgestempelt zu werden.
Selbsthilfegruppe Anonyme Arbeitssüchtige
Hilfe suchte Dietz bei den Anonymen Arbeitssüchtigen, kurz AAS. Die Treffen der Anonymen Arbeitssüchtigen gibt es seit den 1980er Jahren. Sie orientieren sich an dem Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker aus den USA.
Dietz ging oft zu den Meetings in München oder nahm online teil. Der zweite der zwölf Schritte sei für sie hierbei zentral. „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben konnte“, zitiert sie.
Bei den Treffen der AAS habe sie durch andere Betroffene mitbekommen, welche körperlichen Folgen Arbeitssucht haben könne: Herzprobleme, Rückenschmerzen, Burn-out, Depressionen. Auch Dietz erkrankte schwer. Mit 57 Jahren erhielt sie eine Krebsdiagnose, war ein Jahr lang krank. Danach folgte ein Herzinfarkt. Sie zog einen Schlussstrich und ging in Frühpension.
Während ihrer Pension habe sie gelernt, allein zu sein und Spaß zu haben. „Heute tue ich, was mir guttut und höre auf meinen Körper“, sagt sie.