Rom (epd). Als Mattia Baseggio aus dem Sommerurlaub in Griechenland nach Venedig in sein eigenes Gästehaus zurückkehrt, ist er überrascht über die vielen Touristen in der Lagunenstadt. „Normalerweise kommen im August weniger Besucher“, erzählt der Betreiber der kleinen Pension Ponte Chiodo. Viele reisten zum ersten Mal nach Venedig, denn sie kämen in der Überzeugung, nach der Corona-Epidemie auf leere Gassen, Brücken und Plätze zu stoßen. „Ich sehe mehr neugierige Besucher, die Venedig wirklich sehen wollen“, freut sich Baseggio, bevor er mit seinem Sohn in dem an der Rückseite des Gästehauses am Kanal vertäuten Boot zum Baden am Lido fährt.
Der Massentourismus schreckte nach Auffassung des Kunstliebhabers immer mehr Kunstinteressierte von Reisen nach Venedig ab. Doch seit die Quarantäne-Regeln für Besucher aus dem Ausland gelockert sind, nutzen viele Reisende, die gewöhnlich überlaufene Orte wie Venedig meiden, die zurückgewonnene Freiheit für einen Besuch in der Lagunenstadt.
250 Filmproduktionen
Wer mit dem Zug anreist, passiert in dem verwaltungstechnisch zu Venedig gehörenden Mestre eine einst verschlafene Kleinstadt, in der in den letzten Jahren zahlreiche Hoteltürme für Venedig-Reisende entstanden sind. Die Unesco drohte, Venedig nicht nur wegen der Kreuzfahrtschiffe, sondern auch wegen eines Hotelturms in Mestre aus der Weltkulturerbe-Liste zu streichen.
„Die Kreuzfahrtschiffe kommen leider nicht mehr nach Venedig“, beklagt der Stadtrat für Tourismus, Simone Venturini. Aufgrund der Entscheidung der Regierung in Rom, die Lagunenstadt für Kreuzfahrtschiffe zu sperren, hätten 5.000 Menschen ihre Arbeit verloren. Und der angeblich die Skyline verschandelnde Turm habe sämtliche Genehmigungen erhalten, bevor er gebaut wurde.
Nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie, die die Touristenströme zeitweise versiegen ließ, tobt in Venedig der Streit darüber, wie verhindert werden kann, dass die Stadt sich gänzlich in eine Mischung aus Museum und Disneyland verwandelt. Mitten im Corona-Lockdown hätten 250 Filmproduktionen Szenen in der Stadt gedreht, schwärmt der Stadtrat für Tourismus. In diesem Jahr sei Venedig gar eine Hauptstadt der Mode, denn mehrere Luxusmarken hätten dort ihre Kollektionen präsentiert.
„Gesellschaftliches Labor“
Während Touristen auf dem Markusplatz und an der Rialto-Brücke Selfies machen, pflegt Michele Savorgnano auf der gegenüberliegenden Laguneninsel Giudecca seinen von hohen Mauern umgebenen experimentellen Garten. „Wir müssen dafür sorgen, dass in diesem Archipel alle gesellschaftlichen Klassen vertreten sind“, fordert der Gartenarchitekt. Gemeinsam mit Freunden und Nachbarn versucht er, ein gemischtes Umfeld zu schaffen, in dem nicht nur wohlhabende Venedig-Liebhaber leben.
Unweit der Touristenströme bildet die Insel mit dem ehemaligen Gefängnis in Savorgnanos Augen ein „gesellschaftliches Labor, das es auszudehnen gilt“. Fischer, die seit Generationen jeden Morgen auf Fang gehen, leben hier Wand an Wand mit Architekten, Musikwissenschaftlern und Betreibern eines Kulturzentrums.
Eine Gemeinschaft, die trotz steigender Preise in Venedig bleibt, müsse dafür sorgen, dass Handwerker wie Klempner und Maurer dort ihr Auskommen finden. „Dafür muss ich diese Leute aus der Nachbarschaft rufen und nicht andere vom Festland, die billiger sind“, sagt Savorgnano, der hinter Mauern verborgene Gärten in Venedig gestaltet.
Luxus-Marke statt Billig-Souvenirs
Während die Stadtverwaltung auf die Ansiedlung von Entwicklungsabteilungen großer Konzerne hofft, um Venedig weniger abhängig vom Tourismus zu machen, entwirft Pietro Lunetta Design-Objekte, die er in der Lagune herstellen lässt. „Wir haben uns gefragt, wie wir aus architektonischen Elementen Gebrauchsgegenstände machen könnten, die mehrere Funktionen erfüllen und obendrein Spaß machen“, erklärt der 49-Jährige. Beim abendlichen Fußballspiel mit Freunden sei die Idee entstanden, mit 3D-Druckern Gefäße herzustellen, die an typische venezianische Formen erinnern und gleichzeitig für Arbeit für Handwerker in der Lagune sorgen. Aus Brunnenformen des 17. Jahrhunderts formte er Schalen aus Kunstharz und Biskuitporzellan.
Mit ihrer Luxus-Marke Homer wenden sie sich nicht Touristen, die im Souvenirladen in Fernost hergestellte Karnevalsmasken für wenige Euro oder Plastik-Gondeln erstehen. Lunetta und seine gleichgesinnten Freunde hoffen, dass die Corona-Pandemie einen Wandel vom Massen- zum Qualitätstourismus begünstigt. Pläne der Stadtverwaltung für je nach Saison gestaffelte Abgaben auch für Tagestouristen sollen nicht nur Geld in die Kassen spülen, sondern auch längere Aufenthalte in Venedig fördern.