Nürnberg (epd). Der Umgang mit Flüchtlingen in Europa hat am 10. Juni die politischen Diskussionen auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg bestimmt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verteidigte vor rund 5.000 Menschen in Nürnberg den Kompromiss der EU-Innenminister zur Reform des europäischen Asylsystems vom 8. Juni. „Es geht um Solidarität“, sagte Scholz. Der Kanzler erhielt dafür Applaus, aber auch Protestrufe aus dem Publikum.
Die EU-Innenminister hatten sich nach langen Verhandlungen auf eine Asylrechtsverschärfung verständigt. Ein zentraler Punkt ist die Einführung von Grenzverfahren an der EU-Außengrenze. Menschen, die aus Ländern kommen, aus denen nur wenige Flüchtlinge in Europa anerkannt werden, müssen dem Kompromiss zufolge künftig bis zu drei Monate in Lagern oder Einrichtungen an den EU-Außengrenzen ausharren, bis ihr Verfahren abgeschlossen ist. Sie sollen von dort aus zurückgeschickt werden, wenn sie kein Bleiberecht erhalten.
Die Vorschläge der EU-Innenminister sollen die Zahl der Asylbewerber mit geringen Bleibechancen reduzieren und Abschiebungen vereinfachen. Daneben sieht ein Solidaritätsmechanismus eine fairere Verteilung von Schutzsuchenden in den EU-Ländern oder Ausgleichzahlungen vor. „Uns ist eine historische Entscheidung gelungen“, hatte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) Faeser in Luxemburg erklärt.
Scholz erläuterte, dass ein Solidaritätsmechanismus etabliert werde, in dem Staaten wie Deutschland Flüchtlinge aus den EU-Grenzstaaten übernehmen, dort dafür aber alle registriert werden. Dieser vereinbarte Mechanismus sei ein faireres Asylsystem als das heutige, ergänzte Scholz. Gleichzeitig verteidigte Scholz die Pläne für Grenzverfahren, die dazu führen sollen, dass Menschen ohne Schutzberechtigung in der EU schnell wieder zurückgeschickt werden. Es brauche Regeln, so der Kanzler.
Bundesinnenministerin Faeser kündigte unterdessen Nachbesserungen an: „Wir wollen jetzt zusammen mit dem Europäischen Parlament in den weiteren Verhandlungen dafür sorgen, dass Familien mit Kindern nicht ihr Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen müssen, sondern gleich in die EU einreisen können“, sagte Faeser der „Bild am Sonntag“.
Für die Caritas enthalten die Beschlüsse etliche Pferdefüße. In den anstehenden Verhandlungen müssten unbedingt die Ausnahmen im Rahmen der Grenzverfahren ausgeweitet werden, insbesondere für Familien mit minderjährigen Kindern, sagte Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa am Rande des Katholischen Flühtlingsgipfel am 15. Juni. Die Bestimmung von sogenannten sicheren Drittstaaten darf nach ihren Worten nicht einzelnen Mitgliedstaaten überlassen werden, sondern muss sich an den Standards der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren. Anderfalls steuere man „auf einen neuerlichen Flickenteppich im Flüchtlingsschutz zu, der schwerwiegende Folgen für die Einhaltung von Menschenrechten an den EU-Außengrenzen und für die Glaubwürdigkeit der EU haben wird“.
Neben zahlreichen anderen Flüchtlings- und zivilgesellschaftlichen Organisationen haben auch die evangelische Kirche, das Hilfswerk „Brot für die Welt“ und die Diakonie deutliche Kritik an der Einigung der EU-Innenminister zum EU-Asylrecht geäußert. Der EKD-Flüchtlingsbischof Christian Stäblein sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Rande des Kirchentags: „Man lässt keine Kinder und Familien vor den Toren stehen. Punkt.“
Stäblein bezog sich damit auf den Satz „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt“, der vor vier Jahren auf dem Kirchentag in Dortmund gefallen war und zum Slogan der Seenot-Rettungsbewegung geworden ist. Der Beauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Flüchtlingsfragen zeigte sich enttäuscht, dass sich Innenministerin Faeser bei den Beratungen der EU-Innenminister und -ministerinnen mit ihren Forderungen nach Ausnahmen für Minderjährige und deren Familienangehörige nicht durchsetzen konnte.
Der Geistliche zeigte Verständnis für die Sorgen der Kommunen, angesichts hoher Flüchtlingszahlen an die Grenze ihrer Aufnahmekapazitäten und Integrationsmöglichkeiten zu kommen. Diese Fragen müssten ernst genommen werden, dürften aber nicht mit humanitären Fragen verknüpft werden. Stäblein verwies in diesem Zusammenhang auf den weitgehend erfolglosen Gipfel von Bund und Ländern zu dieser Frage von Mitte Mai. In der Diskussion den Fokus auf eine schnellere und effizientere Abschiebung von Schutzsuchenden ohne Asylanspruch zu legen, sei insgesamt „ein falscher Zungenschlag“, sagte Stäblein. Im Vordergrund müssten das Recht auf Asyl und eine humane Migrationspolitik stehen.
Gegen eine geplante Verschärfung des EU-Asylrechts protestierten auch Teilnehmende des Kirchentags mit einer Resolution. Darin wenden sie sich gegen einen „Ausverkauf der Menschenrechte“ und einen „Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Flüchtlingsrecht“. Geflüchtete erwarte an den EU-Außengrenzen nach den Plänen künftig nur ein Schnellverfahren ohne inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe. „Mit einem fairen rechtsstaatlichen Vorgang hat das nichts zu tun“, hieß es. Die Pläne führten „nur zu noch mehr Entrechtung von Schutzsuchenden“. Ihnen drohe ein „Horrorszenario“ mit Inhaftierung in Lagern.
Eine Gegenrednerin wandte ein, Verfahren an den Grenzen seien nur für Geflüchtete mit schlechter Bleibeperspektive geplant. Hinter der Resolution stehen die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche sowie die Organisationen „Sea-Watch“ und „Pro Asyl“.