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Interview

Migrationsforscher: Chancen-Aufenthaltsrecht kein großer Wurf




Marcus Engler
epd-bild/Mehdi Bahmed/DeZIM
Der Migrationsforscher Marcus Engler sieht Ministerin Faesers Plan, Geduldeten unter bestimmten Voraussetzungen ein Bleiberecht zu geben, als wichtigen und richtigen Schritt. Doch für einen echten Paradigmenwechsel in der deutschen Asylpolitik müsse noch mehr passieren. Welche weiteren Reformen nötig sind, erläutert der Sozialwissenschaftler im Interview mit epd sozial.

Frankfurt a.M. (epd). Setzte die Vorgängerregierung unter Innenminister Horst Seehofer (CSU) strikt auf Abwehr und Härte gegen ankommende Flüchtlinge, so atmet der Koalitionsvertrag der neuen Regierung einen anderen Geist. Migrationsforscher Marcus Engler vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin begrüßt das. „Es geht vor allem erst einmal darum, das Rad wieder etwas zurückzudrehen und zu einer pragmatischen, liberalen Migrations- und Asylpolitik zurückzukehren, die von Vernunft geprägt ist.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Dr. Engler, seit Jahren stehen die Kettenduldungen in der Kritik. Jetzt hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) einen Gesetzentwurf vorgelegt, der abgelehnten Asylbewerbern unter bestimmten Bedingungen ein Bleiberecht ermöglicht. Wie ist das zu bewerten?

Marcus Engler: Die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten angekündigt. Faesers Gesetzesentwurf ist ein erster Schritt in diese Richtung. Dass die Ministerin jetzt den Gesetzgebungsprozess startet, kommt nicht überraschend. Das, was diese Bundesregierung an Reformen plant, geht aber noch weit darüber hinaus, was Faeser jetzt als „Chancen-Aufenthaltsrecht“ bezeichnet. Das aktuelle Paket enthält zum Beispiel auch Regelungen zum erleichterten Familiennachzug für bestimmte Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Zudem soll der Zugang zu Sprachkursen verbessert werden. Später im Jahr will die Regierung weitergehende Reformvorschläge vorlegen, etwa für den Bereich der Arbeitsmigration oder die Migrationsaußenpolitik. Bislang gibt es dazu oft nur Absichtserklärungen. Wir müssen abwarten, ob und was davon dann wie im Detail umgesetzt wird.

epd: Es gibt also schon eine grundsätzlich andere, nicht mehr von Abwehr geprägte Herangehensweise?

Engler: Ja, dieser Ansatz steht in einem deutlichen Kontrast zur Migrationspolitik der vorherigen Bundesregierung unter Innenminister Horst Seehofer (CSU). Das fängt schon mit der Art und Weise an, wie die Ampel-Regierung über Migration spricht. Unter Seehofer wurde Migration überwiegend als Risiko oder Bedrohung dargestellt. Er fürchtete einen Kontrollverlust und setzte fast ausschließlich auf mehr Ordnung und Härte. Zudem war der Politikstil der vergangenen Regierung von einem permanenten Krisenmodus geprägt. Sie handelte oft unter hohem Zeitdruck, was zur Folge hatte, dass etwa NGOs oder Verbände im Anhörungsprozess zu Gesetzen mitunter nur ein, zwei Tage Zeit hatten, sich zu äußern. Und äußerst selten wurde dann etwas aus deren Stellungnahmen in die Gesetze aufgenommen. Auch das spricht Bände. Die vorherige Bundesregierung hatte die Chancen von Migration zuletzt völlig aus dem Blick verloren.

epd: Und jetzt?

Engler: Jetzt deutet sich ein Neustart an. Der Koalitionsvertrag lässt das erwarten. Und auch zahlreiche Äußerungen von Regierungsmitgliedern deuten darauf hin. Es dürfte auch einen anderen Politikstil geben, eine Rückkehr zu normalen, geordneten Gesetzgebungsverfahren und ernst gemeinten Konsultationen. Das sollte in liberalen und partizipativen Demokratien eigentlich selbstverständlich sein. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder breitere inhaltliche Debatten über Migration und Asyl führen, die nicht alleine von sicherheitspolitischen Erwägungen dominiert werden. Ich gehe allerdings davon aus, dass es zu diesen Themen weiterhin kontroverse Auseinandersetzungen geben wird.

epd: Da spielen doch sicher nicht alleine humanitäre Überlegungen ein Rolle ...

Engler: Ich denke nicht ausschließlich. Aber wie schon gesagt: es geht vor allem erst einmal darum, das Rad wieder etwas zurückzudrehen und zu einer pragmatischen, liberalen Migrations- und Asylpolitik zurückzukehren, die von Vernunft geprägt ist. Für das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ gibt es ein Bündel an Motiven. Sicher gibt es dafür auch humanitäre Gründe: man will vielen Menschen ersparen, mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus leben zu müssen. Über Jahre mit einer lediglich temporären Duldung leben zu müssen ist, eine sehr belastende Situation. Davon sind oft ganze Familien betroffen. Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht" kehrt jetzt auch wieder eine Form von Pragmatismus in die Migrationspolitik ein.

epd: Was naheliegend ist, denn viele Menschen werden ohnehin bleiben ...

Engler: Ja. Auch viele geduldete Personen werden langfristig in Deutschland leben. Und dann spielt auch der Bedarf an Arbeitskräften eine Rolle. Die Wirtschaft sucht händeringend nach Mitarbeitenden. Die kann sie natürlich auch unter den Geflüchteten finden, die im Land bleiben können. Aber klar sehen muss man auch, dass die neue Regelung nur einen begrenzten Personenkreis betrifft und die Probleme auf dem Arbeitsmarkt alleine sicher nicht lösen wird.

epd: Ist der Entwurf von Ministerin Faeser schon der große Wurf oder nicht mehr als ein erster Schritt, dem viele weitere folgen müssen?

Engler: Von einem großen Wurf würde ich noch nicht sprechen. Aber die neue Richtung stimmt insgesamt. Die Bundesregierung muss aber an vielen Stellschrauben drehen, und restriktive Entscheidungen der Vorgängerregierung rückgängig machen. Die große Koalition hat vor allem seit Ende 2015 viele Bestimmungen in der Asylpolitik verschärft, die Rechte vieler Flüchtlinge beschränkt und somit deren Partizipation am gesellschaftlichen Leben erheblich erschwert.

epd: Welche Rolle in der aktuellen Debatte um Reformen im Asylrecht spielt der Ukraine-Krieg?

Engler: Viele Geflüchtete, die schon länger in Deutschland leben, fühlen sich im Vergleich mit den Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, ungerecht behandelt. Letztere erhalten ja jetzt unmittelbar Zugang zum Arbeitsmarkt und Integrationskursen. Auch vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, auch Geflüchteten aus anderen Staaten einen schnelleren Zugang zu Integrationskursen und zum Arbeitsmarkt zu gewähren.

epd: Vor diesem Problem steht Deutschland ja nicht alleine ..

Engler: Richtig, alle modernen Einwanderungsgesellschaften stehen vor der Herausforderung, wie sie mit Menschen umgehen sollen, die in ihrem Land leben, aber kein Aufenthaltsrecht haben. Denken Sie an die Millionen irregulärer Einwanderer in den USA oder die vielen Sans Papiers in Frankreich. Welche Optionen haben Regierung? Sie können tolerieren, dass hunderttausende Menschen einfach im Land sind, oft illegal arbeiten, womöglich ausgebeutet werden, weil sie rechtlos sind, und eventuell keine Steuern und Abgaben zahlen. Oder sie versuchen, diese Menschen zur Rückkehr zu bewegen - auf „freiwilliger“ Basis oder durch Abschiebungen, die ganz oft aus verschiedensten Gründen scheitern. Als dritte Möglichkeit bleibe der Politik, den zu legalisieren - und das passiert hier bei uns gerade. In der Praxis nutzen Regierungen oft alle drei Optionen gleichzeitig. Nur eben mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Auch im Koalitionsvertrag ist ja die Rede von einer „Rückkehroffensive“.

epd: Wie viele Geduldete könnten von den geplanten Reformen profitieren?

Engler: Rund 242.000 Menschen sollen Ende 2021 in Deutschland mit einer Duldung gelebt haben, sagt die Bundesregierung - etwas weniger als die Hälfte davon, knapp 105.00 Menschen, seit fünf Jahren oder länger. Viele dieser Menschen stammen übrigens aus fragilen Staaten wie Afghanistan, dem Irak oder Nigeria, in die sie auf absehbare Zeit häufig nicht in Sicherheit zurückkehren können. Das ist keine sehr hohe Zahl, und nur ein Teil dieser 105.0000 Menschen wird vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren. Denn auch hier gibt es Hürden, die genommen werden müssen.

epd: Sie müssen ihre Identität nachweisen. Das aber ist mitunter schwierig ...

Engler: Ja, viele Geduldete können oder wollten das nicht. Dahinter stecken aber - anders, als etwa viele Unions-Politiker meinen - in der Regel keine kriminellen Motive und auch nicht die Absicht, den Staat zu betrügen. Häufig ist es sehr kompliziert und mit beachtlichen Kosten verbunden, sich Ausweispapiere zu verschaffen. Das schreckt viele ab. Außerdem gibt es wenig Anreize, sich Papiere zu beschaffen. Viele europäische Staaten haben sich zunehmend vom Völkerrecht abgewendet, schieben Flüchtlinge an ihren Grenzen mit Härte zurück und machen auch vor Abschiebungen in Staaten wie Afghanistan nicht Halt. Vor dieser Politik versuchen sich manche Menschen schlichtweg zu schützen.

epd: Wie sind die anderen Voraussetzungen zu beurteilen, die erfüllt sein müssen, um ein Bleiberecht zu erlangen?

Engler: Das kommt auf viele Details an. Bereits im aktuellen Aufenthaltsgesetz finden sich in § 25 Regelungen, die ein Bleiberecht möglich machen. Für viele Menschen sind diese Hürden bislang aber zu hoch. Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll ihnen helfen, diese Hürden zu überwinden. Entscheidend ist aber, dass die davon betroffenen Menschen während der zwölf Monate, die ihnen dafür gegeben werden, auch tatsächlich effektive Unterstützung erhalten. Die Beherrschung der deutschen Sprache auf dem Niveau A2 zu fordern, ist angemessen: Deutschkenntnisse sind eine Minimalvoraussetzung, um an dieser Gesellschaft teilnehmen zu können. Aber es muss sichergestellt werden, dass diese Menschen auch an einem Sprachkurs teilnehmen können. Im Aufenthaltsgesetz steht außerdem, dass man sein Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit bestreiten können muss. Man muss also nicht finanziell völlig auf eigenen Füßen stehen, sondern kann zum Beispiel noch Wohngeld erhalten. Aber auch hier ist es entscheidend, dass die betroffenen Personen, die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Viele durften in der Vergangenheit gar nicht arbeiten.

epd: Werfen wir noch einen Blick auf die Bedenken der Union gegen das Chancen-Aufenthaltsrecht. Die Konservativen warnen vor einem deutschen Sonderweg. Wie bewerten Sie die Kritik?

Engler: Ich halte das für vollkommen übertrieben. Da wird so getan, als ob jeder jetzt automatisch ein Bleiberecht bekommen soll, auch wenn sein Asylantrag abgelehnt wurde. Das ist aber nicht so. Richtig ist, dass das europäische Asylrecht alles andere als großzügig ist, und über Jahre in seinen Grundfesten ausgehöhlt wurde. Das hat zu den Dramen geführt, die sich an den EU-Außengrenzen abspielen. Das Verhalten vieler Staaten ist völkerrechtswidrig. Richtig ist aber auch, dass auch andere EU-Staaten in der Vergangenheit immer wieder den Aufenthalt von Menschen ohne Bleiberecht in ihren Ländern legalisiert haben, wenn sie es aus humanitären oder pragmatischen Gründen für richtig hielten. Was Deutschland jetzt plant, ist nur, zu den europäischen Grundwerten zurückzukehren. Wenn wir in Europa insgesamt wieder stärker zu einer humanitär ausgerichteten Flüchtlings- und Migrationspolitik zurückfinden und nicht nur die Menschen, die jetzt aus der Ukraine flüchten, großzügig aufnehmen würden, dann würden wir Hunderttausende von Menschen europaweit in Zukunft nicht mehr länger über Jahre hinweg in einer prekären Situation lassen.



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