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"Ich habe mich ausgebeutet gefühlt"




Mitte 2021 waren im Schnitt deutschlandweit 784.000 Leiharbeiter beschäftigt.
epd-bild/Gustavo Alàbiso
Seit 50 Jahren ist es in Deutschland erlaubt, Menschen für zeitlich befristete Arbeit an Betriebe auszuleihen. Das Instrument war vom ersten Tag an umstritten: Ist es eine Brücke zu besseren Jobs oder erleichtert es die Ausbeutung von Beschäftigten?

Würzburg (epd). Es sollte nur ein Anfang sein: Als Thomas Gandel (Name geändert) im Anschluss an seine Ausbildung zum Industriemechaniker nur in der Zeitarbeit Jobs fand, griff er zu. Der Würzburger war sicher, bald eine feste Anstellung zu finden. Doch er täuschte sich. „Ich war schließlich bei vier verschiedenen Leiharbeitsfirmen und hatte fast zehn verschiedene Jobs, unter anderem als Helfer in der Industrie und im Ladenbau sowie in der Lagerlogistik“, berichtet der 32-Jährige.

Wie mit Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern teilweise umgegangen wird, ist für Gandel nicht zu entschuldigen: „Ich habe mich ausgebeutet gefühlt.“ Leiharbeit steht in der Kritik, seit es sie gibt. Das ist seit genau 50 Jahren der Fall. Bis 1972 war Leiharbeit in Deutschland verboten. Am 21. Juni 1972 stimmte der Deutsche Bundestag dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) einstimmig zu.

„Jetzt werde ich wie ein Mensch behandelt“

Über seinen Einsatz bei einem Wurstproduzenten vor vielen Jahren ist Thomas Gandel heute noch empört. Dort sei „Drecksarbeit“ verlangt worden: „Ich musste zum Beispiel den Fettabscheider reinigen.“ Das sei ein stinkiger, schmieriger und unangenehmer Job gewesen. Für den sei er obendrein auch noch deutlich schlechter bezahlt worden als die fest angestellten Kollegen. Es sei ihm verboten worden, die Kollegen danach zu fragen, was sie denn verdienten: „Ich tat es dennoch.“

Gandel ist froh, dass er endlich der Zeitarbeit entkommen ist: „Ich erhielt vor drei Monaten eine Arbeitsgelegenheit im Würzburger Sozialkaufhaus ‚Brauchbar‘.“ Nun verdient er zwar immer noch nicht viel. Aber der junge Mann fühlt sich endlich an einem Arbeitsplatz wohl. „Ich werde hier wie ein Mensch behandelt.“ Nun hofft er auf einen Berufsweg ohne Zeitarbeit. Das ständige „hire and fire“ habe ihm sehr zugesetzt: „Immer hatte es geheißen, dass ich nach drei Monaten übernommen werde. Meist sagten sie aber nach zwei Monaten, dass die Firma doch kein Interesse an mir hat.“

Erst Hartz-Reformen beflügelten die Leiharbeit

Nach der Einführung durch den Gesetzgeber vor 50 Jahren spielte die Leiharbeit hierzulande zunächst keine große Rolle in Deutschland, erst die Hartz-Reformen verhalfen ihr zu einem Siegeszug. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg sind aktuell von 100 Beschäftigten zwei in der Leiharbeit tätig. Im ersten Halbjahr Juni 2021 waren es im monatlichen Durchschnitt 784.000 Männer und Frauen. Der Höchststand war im November 2017 mit über einer Million Leiharbeiter erreicht. Mehr als jeder zweite Leiharbeiter übt eine Helfertätigkeit aus.

Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wurde in den vergangen fünf Jahrzehnten oft reformiert. Vor 40 Jahren kam es zum Verbot der Arbeitnehmerüberlassung im Bauhauptgewerbe. Vor 25 Jahren wurde die Überlassungshöchstdauer von neun auf zwölf Monate verlängert. Vor 20 Jahren wurde sie auf zwei Jahre ausgeweitet. Seit April 2017 muss Leiharbeitern und Leiharbeiterinnen nach neun Monaten der gleiche Lohn wie dem Stammpersonal bezahlt werden. Die Überlassungshöchstdauer wurde auf eineinhalb Jahre reduziert.

Oft unvermeidlicher Schritt zu einer Beschäftigung

Für viele Männer und Frauen sei Zeitarbeit die einzige Möglichkeit, überhaupt erst mal in Arbeit zu kommen, sagt Matthias Schulze-Böing, Vorsitzender des in Offenbach angesiedelten Vereins „Beschäftigungspolitik: kommunal“. Zeitarbeit sei auf jeden Fall besser als Arbeitslosigkeit. „Nur wenige wollen dauerhaft in der Zeitarbeit bleiben“, sagt der Soziologe, der in den 1980er Jahren an der ersten größeren wissenschaftlichen Studie zur Zeitarbeit mitgewirkt hatte.

Nach Ansicht von Schulze-Böing ist es nicht nötig, nach der umfassenden Reform von 2017 in nächster Zeit einen weiteren Gesetzentwurf zur Novellierung des AÜG vorzulegen. „Es wurden in den letzten Jahren schon relativ viele Streben eingezogen“, sagt er. Allerdings gebe es noch immer schwarze Schafe in der Wirtschaft. „Jobcenter und Arbeitsagenturen sollten deshalb immer genau hinschauen, mit wem sie zusammenarbeiten, und nicht einfach jedes Stellenangebot blind bedienen“, appelliert der ehemalige Geschäftsführer des Jobcenters Offenbach.

Die DGB-Gewerkschaften setzten kürzlich höhere Löhne in der Zeitarbeitsbranche sowie mehr Urlaubsgeld und höhere Weihnachtszuwendungen durch. Der aktuellen, in neun Gruppen aufgeteilten Entgelttabelle zufolge müssen Leiharbeiter mindestens 10,88 Euro pro Stunde erhalten. In der Entgeltgruppe 9 sind es 23,72 Euro.

Migranten oft zunächst Leiharbeiter

Vor allem Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund akzeptieren zunächst Leiharbeit, um auf dem hiesigen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, beobachtet Jochen Widmann vom „Würzburger Arbeitslosentreff“. Dies sei auch oft die einzige Chance, eine versicherungspflichtige Arbeit zu bekommen: „Hin und wieder gelingt dann auch der Wechsel in die Festanstellung.“ Hierbei müsse man allerdings beachten, dass es sich bei den Arbeitnehmern in der Regel um junge, gesunde und flexible Männer handelt, sagt der Arbeitslosenberater: „Sie unternehmen viel für einen Arbeitsplatz.“

Ralph Stapp von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) kennt aus seinen Beratungen mehr schlechte als gute Beispiele von Leiharbeit. Nicht einverstanden ist der Aschaffenburger Betriebsseelsorger damit, dass Arbeitsagenturen Leiharbeit „massiv bewerben“.

Widmann liegt es fern, Leiharbeit einfach abzutun. Doch es gebe durchaus Probleme. Schwierig werde es für die Betroffenen immer dann, wenn der Verdienst stark schwankt. Jedes Mal, wenn zum Beispiel Stunden reduziert werden, könne der Leiharbeiter gezwungen sein, zum Jobcenter zu gehen und und einen Hartz-IV-Zuschlag zu beantragen.

Pat Christ