Münster (epd). Die erste Homosexuellen-Demo Deutschlands fand nicht etwa in Berlin, Hamburg oder Köln statt, sondern im beschaulichen Münster in Westfalen. Das war vor 50 Jahren und ist insofern beachtlich, weil die Domstadt bis heute als katholisch-konservativ gilt. Doch schon 1972 verfügte sie über eine große Universität. So war es auch eine studentische Gruppe, die zum 29. April 1972 zu der Demonstration aufrief. Zum Jubiläum wurde am 29. April mit einem großen Empfang in Münster an dieses Ereignis erinnert. Im Festsaal des historischen Rathauses sprachen neben Zeitzeugen auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU).

Die bundesweit erste Demonstration von Schwulen und Lesben sei ein „Meilenstein“ für die queere Bewegung gewesen, sagt Wüst dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Kampf gegen Intoleranz sei dabei nicht nur eine politische, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. „Auch heute kommt es noch auf das Engagement jedes Einzelnen an, um volle Gleichberechtigung zu erreichen. Wir als Landesregierung treten jeder Form von Intoleranz, Ausgrenzung oder gar Diskriminierung gegenüber LSBTIQ entschieden entgegen“, betont der gebürtige Münsterländer.

Der Empfang in Münster, bei dem auch eine Ausstellung geplant ist, soll laut Veranstaltern die Lesben, Schwulen, Bi- und Trans-Menschen aus der Anfangszeit würdigen. „Durch ihren Mut haben sie dazu beigetragen, dass es heute rechtliche Verbesserungen, mehr Akzeptanz und eine facettenreiche queere Community gibt“, sagt Norman Devantier, Vorstand vom KCM Schwulen Zentrum in Münster.

„Ich hatte schon Bammel, dass mich Leute erkennen“

Federführend war vor 50 Jahren der Student Rainer Plein (1948-1976). Mitte April 1971 rief er per Aushang an der Uni Münster zu einem Treffen „homophiler“ Studenten auf. Es meldeten sich etwa 20 Leute, die sich dann zur Gruppe „HSM - Homophile Studenten Münster“ zusammenschlossen. Ein Jahr später folgte am 29. April 1972 die erste Demonstration. Rund 200 Leute nahmen teil, meist junge Männer, aber auch einige lesbische Frauen. Themen waren unter anderem die damals geltenden Berufsverbote für homosexuelle Lehrkräfte, die Bildungspläne zur Sexualerziehung und der Paragraph 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Zwar hatte die sozial-liberale Regierung 1969 den Paragraphen entschärft, aber nicht abgeschafft.

Die Demonstranten zogen vom Schloss Münster über den Wochenmarkt zum Prinzipalmarkt und dann weiter durch die Innenstadt. Einer von ihnen war Peter H., der schon an der Gründung der HSM beteiligt war. Wie für viele andere Teilnehmer war die Aktion auch für ihn eine persönliche Herausforderung. „Ich bin in Münster aufgewachsen und hatte schon ein bisschen Bammel, dass mich Leute erkennen und ansprechen würden“, erzählt er heute. Immerhin kam die Teilnahme an der Demo einem öffentlichen Outing gleich, und das in einer Zeit, als Homosexualität gesellschaftlich noch weitgehend geächtet war. Aber letztendlich überwand H. seine Bedenken: „Ich dachte mir, das muss jetzt sein. Es ist wichtig, dass man an die Öffentlichkeit geht, um die ganzen Vorurteile abzubauen.“

„Brüder & Schwestern, warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!“, stand auf einem der Plakate des Protestzuges. Ein anderes bezog sich auf den bayerischen CSU-Politiker Franz Josef Strauß (1915-1988), der zwei Jahre zuvor auf einen Parteitag seiner Partei gesagt hatte, er wolle „lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“ sein. Die Demonstrierenden verkehrten den Satz ins Gegenteil, als sie skandierten: „Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger“.

Langer Weg bis zur Abschaffung des Paragrafen 175

Insgesamt verlief die Veranstaltung friedlich. Die Münsteraner Bürgerinnen und Bürger verfolgten den Demonstrationszug eher neugierig, erinnert sich Peter H.. „Möglicherweise hatten einige auch gar nicht mitgekriegt, worum es ging. Demos gab es zu dieser Zeit ja ständig“, sagt er mit Blick auf die damalige Studentenbewegung.

Für die Gruppe war die Veranstaltung eine Initialzündung - von Münster aus organisierte die HSM fortan die überregionale Vernetzung schwuler und lesbischer Emanzipationsgruppen, und am 26. April 1973 startete eine erste bundesweite Kampagne zur Abschaffung des Paragraphen 175. Erst 21 Jahre später wurde die strafrechtliche Sondervorschrift zur Homosexualität, die 1872 im Kaiserreich eingeführt und unter den Nationalsozialisten verschärft worden war, endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Die HSM Münster löste sich 1974 bereits wieder auf, doch einzelne Mitglieder engagierten sich weiter für die Rechte Homosexueller. Darunter auch Anne Henscheid (1945-2009), die 1973 mit der Homosexuellen Frauengruppe Münster (HFM) eine der ersten westdeutschen Lesbengruppe mit begründete. Nach ihr und nach Rainer Plein sind heute zwei Straßen in der westfälischen Stadt benannt.