Laatzen (epd). Ein Kind blickt unsicher und neugierig aus dem Abteilfenster. Mit lautem Getöse rollt langsam der Sonderzug mit Flüchtlingen aus der Ukraine in den Messebahnhof in Laatzen bei Hannover ein. Als sich die Türen öffnen, ist es für einen Moment ganz still. Müde, erschöpfte Frauen, Männer und Kinder steigen vorsichtig aus. Bundespolizisten helfen dabei, Kinderwagen aus dem Zug zu heben. Menschen nehmen sich erleichtert in die Arme.
Im kalten Wind am Bahnsteig wartet auch Viktor Roytman. „Dolmetscher“ steht in Deutsch und Ukrainisch auf der gelben Weste des Rentners. Roytman ist einer von zahlreichen Ehrenamtlichen, die die Geflüchteten an einem von bundesweit drei Drehkreuzen in Empfang nehmen. Nie hätte der gebürtige Ukrainer sich ausmalen können, dass er einmal Kriegsflüchtlingen aus seinem Heimatland helfen würde. „Ich hätte es im Leben nicht geglaubt, dass ein Land, das den Faschismus in die Knie gezwungen hat, einen Krieg beginnt“, sagt er kopfschüttelnd.
„Beruhigende Stimme“
An dem Bahnhof, wo üblicherweise internationale Messegäste ankommen, fährt nun jeden Tag mindestens ein Zug aus Polen ein. Rund 15.000 Menschen sind seit Kriegsbeginn im Februar bereits über Laatzen nach Deutschland gekommen. Viele wollen weiterreisen und fragen Roytman nach Wegen, nach medizinischer Versorgung oder auch danach, wie wohl andere Städte in Deutschland zum Leben sind.
Der 69-Jährige, der noch bis vor kurzem als Elektriker gearbeitet hat, beantwortet geduldig alle Fragen. „Ich bin vor allem bekannt dafür, dass ich so eine beruhigende Stimme habe“, sagt der gebürtige Kiewer lächelnd und schiebt sich seine Brille auf die Stirn. An einem seiner ersten Tage als Ruheständler hat er sich spontan bereit erklärt, zu übersetzen. „Ich will so viel helfen, wie es eben geht.“
An jeder Zugtür ein Dolmetscher
An fast jeder Zugtür erwartet die Ankommenden ein Dolmetscher. Viktoria Andryeyeva ist fast jeden Tag am Bahnhof. Für die 48-jährige Klavierlehrerin aus Odessa, die seit fast 20 Jahren in Deutschland lebt, ist es angesichts der Geschehnisse in ihrem Heimatland oft schwer, sich selbst auf Abstand zu halten. „Ich habe aber gespürt, dass es besser ist, wenn ich helfe.“ Das sei ein schönes Gefühl. Seit ein paar Tagen arbeitet Andryeyeva nicht mehr ehrenamtlich, sondern ist von der Region Hannover in einem 450-Euro-Job fest angestellt. Insgesamt arbeiten in jeder Schicht bis zu 170 Menschen, vom Dolmetscher bis zum Caterer.
In der Ankunftshalle des Bahnhofs herrscht inzwischen reges Treiben. Lautsprecher-Durchsagen informieren die Flüchtlinge auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch, dass sie in Hannover angekommen sind, das im Norden Deutschlands liegt, und über die Möglichkeiten, mit weiteren Zügen oder Bussen weiterzufahren. Kinder mit kleinen Rucksäcken auf den Schultern hüpfen an der Hand ihrer Eltern über den dunklen Steinboden. Vor dem Stand der Deutschen Bahn, die kostenlose Tickets zur Weiterfahrt vergibt, hat sich eine lange Schlange gebildet.
Baby-Fläschchen und Rollstuhl
Mitarbeiter und ehrenamtliche Helfer vom Deutschen Roten Kreuz verteilen Getränke und Snacks. Zu ihnen gehört auch Fadi Merzah, der einer jungen Mutter mit Baby auf dem Arm eine Trinkflasche und Milchpulver gibt. Das in eine warme Decke gewickelte Kind schaut ihn mit großen Augen an und der 32-jährige gebürtige Iraker drückt für einen kurzen Moment die kleine ausgestreckte Hand.
Dann muss er auch schon weiter: Eine Frau sucht für ihre Großmutter einen Rollstuhl, um zum nächsten Gleis zu kommen. Sie will mit ihrer „Babuschka“ nach Leipzig weiterfahren. Merzah, der bis vor sieben Monaten selbst in der Ukraine gelebt und als Arzt gearbeitet hat, bringt die Familie bis in den Zug. Zwölf Stunden dauern seine Schichten auf dem Messegelände.
Manche Züge kommen erst spät abends an. Er versorgt auch die Menschen, die in den nahegelegenen Messehallen für eine Nacht unterkommen können. Da Merzah ihre Sprache spricht, hat er ein Ohr für ihre Ängste und Nöte.
Eine halbe Stunde nach Ankunft des Zuges ist der Messebahnhof wieder leer und still. Eine Rotkreuz-Helferin räumt noch ein paar Lebensmittel von den Tischen. Manche Menschen wollten oft nur erzählen, sagt sie. Auch wenn sie selbst kaum ein Wort verstehe, könne sie erahnen, dass sie von ihrem zerstörten Zuhause berichteten. „Manchmal nehmen wir uns dann einfach weinend in die Arme.“