Berlin, Paris (epd). Einer Studie der OECD zufolge hat Deutschland erhebliche Rückstände bei der Weiterbildung - trotz angelaufener "Nationaler Weiterbildungsstrategie". Vor allem die Bedürfnisse Geringqualifizierter kämen zu kurz, hieß es bei der Vorstellung der Untersuchung am 23. April. "Ansprüche auf Bildungszeiten sollten einheitlich geregelt, finanzielle Anreize gebündelt und die Möglichkeiten zur Anerkennung nicht-formal und informell erworbener Fähigkeiten verbessert werden", so die Autorinnen und Autoren. Gewerkschaften und Sozialverbände begrüßten die Empfehlungen. Sie sprachen sich auch für das geforderte Bundesweiterbildungsgesetz aus.
Für die Studie untersuchten Forscher, wie gut das hiesige Weiterbildungssystem Menschen und Unternehmen dabei unterstützt, mit dem raschen Wandel der Arbeitswelt Schritt zu halten. Im OECD-Vergleich hat Deutschland den Angaben nach mit 18 Prozent einen recht großen Anteil von Arbeitsplätzen mit hohem Automatisierungsrisiko. Das sind Arbeitsplätze, die zukünftig wegfallen könnten, weil eine Maschine die Tätigkeiten übernimmt.
Weitere 36 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland werden sich in den kommenden 15 Jahren wahrscheinlich stark verändern, betonen die Arbeitsmarktforscher. Gleichzeitig würden viele neue Jobs entstehen. "Weiterbildung von Aufbaustudiengängen über Lehrgänge bis hin zum Lernen von Kolleginnen ist essenziell, um Menschen auf diese Veränderungen vorzubereiten", so die Autorinnen und Autoren.
Wie die Studie weiter aufzeigt, werden hierzulande im insgesamt leistungsstarkem Bildungssystem ausgerechnet diejenigen oft nur schwer von Schulungen erreicht, die besonders davon profitieren würden - etwa Erwachsene mit geringen Grundkompetenzen, Geringverdienende und Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen. Sie nähmen seltener Weiterbildungsangebote wahr als Menschen mit höheren Qualifikationen, was die Kluft zwischen den Bildungsgruppen weiter vergrößere.
Zwar gebe es diese Tendenz in allen OECD-Ländern. Im Vergleich zu anderen leistungsstarken Mitgliedsländern ist die Weiterbildungsteilnahme in Deutschland jedoch besonders ungleich verteilt, so die Erhebung.
"Deutschland hat in jüngster Zeit viel dafür getan, seine Weiterbildungslandschaft zu modernisieren und die Koordination der vielen Weiterbildungsakteure zu verbessern, nicht zuletzt im Rahmen seiner Nationalen Weiterbildungsstrategie", sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría bei der Vorstellung der Studie: "Dieser Weg muss fortgeführt und erweitert werden, insbesondere durch einen stärkeren Fokus auf jene Gruppen, deren berufliche Zukunft am meisten von Weiterbildung abhängt."
Die Wissenschaftler empfehlen, die komplexen Strukturen zu vereinfachen. Es sei schwer für Einzelne, die Angebot zu überblicken. Auch sei die Vergleichbarkeit in Bezug auf die Qualitätsstandards der Anbieter schwierig und schaffe ungleiche Zugangsvoraussetzungen. "Es wäre sinnvoll, über ein nationales Weiterbildungsgesetz einen Rahmen zu etablieren, der Zuständigkeiten, Organisation, Anerkennung und Finanzierung regelt. Für Anbieter sollten Mindestqualitätsstandards eingeführt werden", raten die Experten.
Zudem wird empfohlen, den Anspruch auf Bildungszeiten und Bildungsurlaub regionen- und branchenübergreifend zu vereinheitlichen und die finanziellen Fördermöglichkeiten für Weiterbildung nutzerfreundlicher zu gestalten.
Beispiele aus Dänemark, Finnland und anderen Ländern zeigten, dass modularisierte Teilqualifikationen für mehr Inklusivität sorgen können, weil sie flexibler auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen.
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) begrüßte die Empfehlung, ein Bundesweiterbildungsgesetz zu schaffen. "Ein solches Gesetz fordern wir schon seit Jahren", sagte Vorstand Sylvia Bühler in Berlin. Mit einer geregelten Finanzierung von Weiterbildung, einer transparenten Beratungsstruktur und geregelten Freistellungsmöglichkeiten würden die Weiterbildungsmöglichkeiten für Beschäftigte verbessert. Bühler betonte, die Teilnahme an Schulungen und Kursen sei zu selektiv. Personen mit geringer Grundbildung und angelernte Kräfte hätten eine besonders niedrige Teilnahme.
Die Arbeitgeber lehnten den Vorschlag, ein Gesetz zu erlassen, ab. Eine stärkere Zentralisierung, Regulierung und Standardisierung von Weiterbildung wie sie die OECD empfiehlt, würde Betriebe und Weiterbildungsträger würden in ihrem Handlungsspielraum einengen. Passgenaue individuelle Lösungen würden durch mehr Bürokratie erschwert, heißt es bei der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände.
Es gebe bereits ein hohes Engagement von Arbeitgebern und ihren Beschäftigten. "Das zeigt sich auch in einer seit Jahren steigenden Weiterbildungsbeteiligung und den ebenso steigenden Investitionen in Weiterbildung der Unternehmen, zuletzt 41,3 Milliarden Euro im Jahr 2019."
Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagte, der Bericht zeige, "dass vor allem eine passgenaue Weiterbildung und Angebote zur beruflichen Neuorientierung für prekär Beschäftigte und Erwerblose dringend nötig sind". Die Veränderungen in der Wirtschaft durch Digitalisierung und Klimawandel erfordern sehr viele neue Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. "Dafür ist das deutsche Weiterbildungssystem bisher nicht ausreichend gewappnet" - auch mit Blick auf die Folgen von Corona.
Menschen ohne Berufsausbildung kämen in der deutschen Weiterbildungslandschaft kaum vor. Wir brauchen für sie endlich eine Weiterbildungsoffensive." Auch müssten die digitalen Kompetenzen deutlich erweitert werden, so Loheide. "Auch die öffentlich geförderte Beschäftigung muss stärker ausgebaut werden, um allen Teilhabe zu ermöglichen."
Sie begrüßte die von der OECD empfohlene Bund-Länder-Initiative für kostenlose oder kostengünstigen Zugänge zu Lernangeboten im gesamten Bundesgebiet. Vor diesem Hintergrund sei es aus Sicht der Diakonie auch sinnvoll, eine zentrale Anlaufstelle für Weiterbildungsangebote zu schaffen.
Beate Walter-Rosenheimer, Sprecherin für Aus- und Weiterbildung der Grünen, beklagte, in Deutschland scheitere Weiterbildung viel zu oft am Geld, fehlender Zeit oder bürokratischen Hürden. "Wir Grüne fordern schon seit langem, Weiterbildung finanziell attraktiv zu machen mit einem Weiterbildungsgeld für Menschen ohne aktuelle Berufstätigkeit beziehungsweise mit einem Weiterbildungs-Bafög für diejenigen, die dafür eine Auszeit aus dem Beruf nehmen." Beides müsse hoch genug sein, um den Lebensstandard sichern. Und: "Wir wollen ein Recht auf Weiterbildung für alle, flankiert durch einen Freistellungsanspruch im Betrieb für die Zeit der Weiterbildung. Wer in Teilzeit weiterarbeiten will, soll dafür den korrespondierenden Teilzeitfreistellungsanspruch erhalten."
Walter-Rosenheimer zufolge sei mit Bildungsurlaub allein eine mehrjährige Fortbildung nicht zu stemmen. Um die Übersicht über die Angebote zu erleichtern, werben die Grünen für Bildungsagenturen vor Ort, die auch die Finanzierungsmöglichkeiten beraten. "Eine zentrale digitale Plattform muss das flankieren für diejenigen, die ihre Informationsangebote lieber online abrufen."