Frankfurt a.M. (epd). Jo macht sich "wahnsinnige Sorgen" um ihren Vater: Weil sie über 14 ist, kann sie ihn nur allein im Gefängnis besuchen - so will es die Coronaschutzverordnung. So will es aber ihre Mutter nicht. "Er hört sich gar nicht gut an", schreibt die 15-Jährige im Chat. In der Online-Community "Knastforum" machen sich gerade viele Angehörige Sorgen um die psychische Gesundheit ihrer Lieben im Knast - von denen sie in der Pandemie noch weniger mitbekommen.
Das Corona-Jahr 2020 hat auffällig viele Gefangene in Krisen gestürzt. Insgesamt 77 Suizide verzeichnete die Bundesarbeitsgruppe "Suizidprävention im Justizvollzug", die seit 20 Jahren bundesweite Daten zu Suiziden in Gefängnissen erhebt. Das sind fast doppelt so viele wie im Vorjahr. "Dieser extreme Anstieg ist mehr als die Schwankungen, die wir immer mal wieder in den Erhebungen haben", sagt Leiterin Maja Meischner-Al-Mousawi.
Die Ursachen könne man aktuell nur vermuten, sagt die Psychologin, die hauptberuflich im Kriminologischen Dienst Sachsen zur Suizidprävention fortbildet. Dass die "gesellschaftliche Gesamtsituation mit Sorgen und Ängsten rund um Corona" auch in Gefängnissen ankommt, steht für sie aber fest. Ereignisse wirkten auch nach "drinnen". Die Isolation bei der Aufnahme, Kontakteinschränkungen bei Besuchen und untereinander belasteten Gefangene.
Und zwar stark, sagt Manuel Matzke von der Gefangenen-Gewerkschaft GGBO. Für ihn hängen die Suizidzahlen klar mit den unter Corona verschärften Haftbedingungen zusammen. Diese seien zwar regional verschieden, "es ist aber überall weniger Kontakt möglich", sagt Matzke, der im Januar aus einer sechsjährigen Haftstrafe entlassen wurde.
Verstärkt werde dies durch eine "ohnehin skandalöse Telefonsituation". Hohe Minutenpreise ins Handynetz, keine Rückrufmöglichkeit, beschreibt sie der GGBO-Sprecher. Tatsächlich zeigen durch parlamentarische Anfrage bekanntgewordene Verträge mit dem Marktführer Telio Preise von 23 Cent pro Minute. "Gefangene, die arbeiten, haben etwa 120 Euro im Monat", sagt Matzke. "Wenn man raucht, Kaffee trinkt oder einen Fernseher mietet, bleibt kaum Telefonzeit." Und noch mehr Zeit für düstere Gedanken.
Dabei sind Gefangene als gefährdete Gruppe bekannt. Ein besonderes Risiko tragen psychisch Erkrankte, aber auch einige Tatprofile bergen Risiken, wie Maja Meischner-Al-Mousawis Daten zeigen. Wer zum Beispiel getötet oder ein anderes Gewaltverbrechen begangen hat, ist anfälliger.
Die "ultimative Präventionsmethode" gebe es nicht, aber ein Screening bei Haftbeginn helfe: Vorgeschichte, Delikte, aber auch Schlüsselpunkte sollten bekannt sein: Wann ist die Verhandlung? Droht Abschiebung? "Solche Ereignisse stürzen Menschen in Krisen." Sind Risiken erkannt, könnten gezielte Angebote gemacht werden - von Sport bis zur Einbeziehung der Angehörigen.
Auch baulich kann Suiziden vorgebeugt werden: Gegen die häufig versuchte Strangulation wirken Plexiglas vor Gittern, Türklinken, an die nichts befestigt werden kann oder Handtuchhaken, die sich bei einem bestimmten Gewicht umdrehen. Nordrhein-Westfalen erprobt zur Prävention gerade ein Verfahren der künstlichen Intelligenz, das Überwachungsvideos analysiert. "Dauerüberwacht wird aber nur, wer als gefährdet eingestuft ist", betont Meischner-Al-Mousawi. "Sonst ist das - zurecht - gar nicht zulässig." Entscheidend ist: Gefährdung erkennen. In Sachsen sind Fortbildungen dazu verpflichtend, "leider ist das nicht überall so".
Besonders für Vollzugsbeamte, die täglich mit Gefangenen zu tun haben, sollten sie das aber sein, findet Jana Sophie Lanio vom interdisziplinären Verein "Tatort Zukunft", der sich für einen humanen Umgang mit Kriminellen einsetzt. "Es fehlen bundesweite Standards zur Suizidprävention." Das größte Problem sei aber der Mangel an Personal, vor allem an Fachpersonal wie Psychologen. Trotz guter Präventionsansätze gebe es daher "viel Luft nach oben".