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Teilhabe

"Unter Wohnungslosen ist der Frust über die Politik groß"



Im Superwahljahr 2021 können Millionen Menschen ihre Stimme abgeben – auch solche, denen die Politik eher wenig Beachtung schenkt. Dazu gehören Bürgerinnen und Bürger ohne feste Meldeadresse, sofern sie sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Von diesem Recht machen aber nicht viele Gebrauch, sagt Thomas Rutschmann, Sozialpädagoge und Referatsleiter Wohnungslosenhilfe beim AGJ Fachverband in Freiburg. Bei der politischen Teilhabe hapere es aber auch in anderen Bereichen.

epd sozial: Herr Rutschmann, in der Corona-Pandemie ist der Alltag für Wohnungslose noch herausfordernder als sonst. Sie haben weniger Einnahmemöglichkeiten als sonst und viele Hilfseinrichtungen können nur eingeschränkt arbeiten. Bleibt da noch Kraft und Zeit für Politik?

Thomas Rutschmann: Unter Wohnungslosen ist der Frust über die Politik groß. Sie haben das Gefühl, dass Politiker ihnen nicht zuhören. Wenn sie wählen, ist es eher eine Frustwahl. Unter den Wohnungslosen gibt es zum Beispiel starke Abgrenztendenzen zu Migranten. Dann heißt es: 'Die bekommen eher Wohnungen als wir.' Bestimmte Parteien greifen das auf und sprechen damit Wohnungslose an. Generell ist es aber so, dass die Menschen andere elementare Probleme haben und wählen bei ihnen nicht an oberster Stelle steht.

epd: Wie können die Mitarbeitenden in den Einrichtungen helfen?

Rutschmann: Wir weisen zuerst auf die Wahlen hin und unterstützen diejenigen, die sich ins Wählerverzeichnis eintragen wollen. Die Sozialarbeiter erinnern die Wohnungslosen zum Beispiel frühzeitig daran, dass sie eventuell einen Ausweis beantragen müssen. Wir veranstalten außerdem Foren, auf denen Wohnungslose gehört werden. So wird nicht immer nur über sie geredet, sondern sie können sich selbst mit Vertretern aus der Politik austauschen. In unserer täglichen Arbeit besprechen wir außerdem aktuelle Probleme, etwa dass Obdachlose auch auf der Straße und nicht nur in den Einrichtungen geimpft werden sollten.

epd: Wie sieht es mit der politischen Bildung aus?

Rutschmann: Politische Bildung darf nicht nur über den Fernseher gehen. Wir versuchen, in unseren Einrichtungen immer mindestens zwei Tageszeitungen und eine Wochenzeitschrift dazuhaben, um verschiedene Ansichten zu zeigen. Relativ viele Wohnungslose haben ein Smartphone und können sich online informieren, wenn sie ins Internet kommen. Daher ist es so wichtig, WLAN für alle zu ermöglichen. Wir arbeiten außerdem mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zusammen.



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