Frankfurt a.M. (epd). In der Corona-Pandemie kollidieren die Interessen. Die einen wollen größtmöglichen Schutz. Die anderen, trotz Virus, größtmögliche Freiheit. In einem besonderen Spannungsfeld befinden sich Senioren. Als vulnerable Gruppe sollen sie bestmöglich geschützt werden. "Doch im Bemühen um Schutz schwingt oft Paternalismus mit", sagt Kristin Bergmann von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Altenarbeit. Die Risikominimierung beeinträchtige oft das psychische Wohl und die Selbstbestimmung alter Menschen.
Menschen über 65 fühlen sich heute oft noch jung. Sie sind unternehmungslustig und aktiv. Schwierig in der aktuellen Pandemie ist für Kristin Bergmann, dass alle älteren Menschen pauschal zur Risikogruppe erklärt werden. "Dadurch wird ausgeblendet, dass Menschen in keiner anderen Lebensphase so unterschiedlich sind wie im Alter", betont die Geschäftsführerin der evangelischen Arbeitsgemeinschaft.
Der 83-jährige Herbert Schmidt aus Würzburg kennt sich mit dem Internet besser aus als so mancher junge Mensch. Als es losging mit der Pandemie, fackelte er nicht lange: "Ich gründete mit anderen einen virtuellen Stammtisch." Seit März ist hier täglich etwas los. Um IT-ferne Senioren aus der Isolation zu holen, bot Schmidt einen Online-Internetkurs an. Zehn 70- bis 86-Jährige nahmen teil. Schmidt twittert, ist in sozialen Netzwerken unterwegs. Sagt dort, was er denkt, kommt damit gut an.
Den Corona-Maßnahmenkatalog zur Eindämmung der Pandemie hält Schmidt für sinnvoll: "Entmündigt fühle ich mich dadurch nicht." Aufgrund seines Alters sieht er sich durchaus als Mitglied der "Risikogruppe". Und tut alles, damit er nicht infiziert wird: "Meinen Urenkel, der im August geboren wurde, hatte ich noch kein einziges Mal auf dem Arm." Schmidt tut dies, wie er sagt, "aus freier Entscheidung".
Gerd Pflug aus dem hessischen Florstadt fühlt sich hingegen vom Staat gegängelt. Pflug ist 77 Jahre alt und aktiver Sportler, er spielt Badminton. 2019 heimste er bei der World Senior Championship im polnischen Kattowitz im Herrendoppel seiner Altersklasse eine Goldmedaille ein. Pflug möchte nicht in erster Linie als Mitglied einer "Risikogruppe" betrachtet werden. Vor allen Dingen möchte er selbst entscheiden, welchen Risiken er sich aussetzt - auf der Basis seiner eigenen Einstellung zu Leben und Tod.
Dass Senioren in Medien fast nur dann auftauchen, wenn es um "Schutz" und "Pflege" geht, findet Sabine Hantzko von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros (BAS) kritisch. "Selbst in Kommunen scheint mir der Hilfebedarfsaspekt zu oft im Vordergrund zu stehen", sagt die stellvertretende BAS-Vorsitzende, die den Seniorenstützpunkt Celle leitet. In Celle sind viele Senioren als Seniorenbegleiter aktiv - auch während der Pandemie. Engagement ist sinnstiftend, erklärt Sabine Hantzko. "Wir ermöglichen es gern, indem wir versuchen, Risiken so weit wie möglich zu minimieren."
Hantzko sieht es kritisch, dass Schutz derzeit vielerorts weit vor Selbstbestimmung rangiert. "Schutz wird dann inhuman, wenn er im Kontrast steht zu den Bedürfnissen der Betroffenen." Durch ihre Arbeit im Stützpunkt erfährt die 49-Jährige, wie unterschiedlich die Bedürfnisse Älterer sind. Da sind die, die ihr klipp und klar sagen: "Ich will nicht geschützt werden." Andere sind verunsichert. Sie haben große Angst um ihre Gesundheit - und sind dankbar für jeden Schutz.
Für den Münchner Claus Fussek ist offensichtlich, dass alte Menschen schlechter behandelt werden als junge. Der 67-jährige Sozialarbeiter gilt als "Deutschlands Pflegekritiker Nummer 1". Für Fussek rächt sich angesichts des massiven Sterbens in den Heimen, dass hilfsbedürftige Senioren in Einrichtungen, wie er sagt, "entsorgt" werden. "In Heime will doch keiner freiwillig rein." Dass alte Menschen mangels Alternativen hierzu gezwungen werden, sieht er als fundamentalste Form der Altersdiskriminierung an.