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Corona

Interview

Juristin: "Impfpflicht würde Vorbehalte nur vergrößern"




Tanja Keller
epd-bild/privat
"Eine Impfpflicht für Pflegekräfte einzuführen ist, rechtlich gesehen, derzeit relativ problemlos zu machen. Der Teufel steckt aber im Detail", sagt Tanja Keller im Interview mit epd sozial. Die Arbeitsrechtlerin erläutert die Fallstricke und spricht über die Unterschiede zu Impfungen über andere Krankheiten.

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat eine Corona-Impfpflicht für Pflegekräfte ins Gespräch gebracht. Auch weil Umfragen ergaben, dass die Fachkräfte bei den Impfungen zurückhaltend sind. Tanja Keller, Richterin am Arbeitsgericht Regensburg und Mitglied der bayerischen evangelischen Landessynode, erklärt im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), wie schnell eine Impfpflicht umsetzbar wäre und warum das 2020 eingeführte Masernschutzgesetz noch die Gerichte beschäftigt. Die Fragen stellte Christiane Ried.

epd sozial: Ministerpräsident Söder hat vergangene Woche eine Corona-Impfpflicht für Pflegekräfte ins Gespräch gebracht. Wäre die so einfach arbeitsrechtlich umsetzbar?

Tanja Keller: Das könnte in der Tat sehr schnell gehen. Denn es braucht nach dem Infektionsschutzgesetz gar kein Gesetz für eine solche Impfpflicht, sondern nur eine Verordnung. Die würde dann über das Bundesgesundheitsministerium laufen und könnte in dringenden Fällen sogar ohne den Bundesrat erlassen werden. Solange der Bund nicht aktiv wird, könnten auch die Bundesländer selbst, also die Landesregierungen, eine solche Verordnung erlassen. Die Voraussetzungen für so ein Vorgehen sind jedenfalls durch die Corona-Pandemie gegeben: bedrohte Teile der Bevölkerung, eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen und die Gefahr einer epidemischen Verbreitung.

epd: Umfragen haben ergeben, dass sich viele Pflegekräfte einer Impfung gegenüber zurückhaltend zeigen. Würde eine Impfverweigerung die Kündigung bedeuten?

Keller: Die große Frage ist, welche Sanktionen mit einer solchen Impfpflicht einhergehen - etwa ob daran tatsächlich ein Beschäftigungsverbot geknüpft ist. Wie genau soll der Arbeitgeber aber eine Impfpflicht umsetzen, und wen genau betrifft sie? Nur den engeren Kreis, also die Pflegekräfte? Oder auch die Beschäftigten, die keinen direkten Dienst am Menschen tun, etwa die Reinigungskräfte oder die Essenszulieferer? Was passiert mit Beschäftigten, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können? Das sind Detailfragen, die geklärt werden müssen. Eine Impfpflicht einzuführen ist, rechtlich gesehen, derzeit relativ problemlos zu machen. Der Teufel steckt aber im Detail.

epd: Im vergangenen Jahr wurde das Masernschutzgesetz eingeführt. Könnte man das als Modell nehmen?

Keller: Zur Erklärung: Das Masernschutzgesetz gilt vor allem in Bereichen der Betreuung von Minderjährigen - also an Kitas, Schulen, Ausbildungsstätten, aber auch Arztpraxen, Krankenhäusern und Asylbewerberheimen. Grundsätzlich darf ein Arbeitgeber in diesem Bereich niemanden einstellen, der keinen Impfnachweis erbringen kann. Für bereits beschäftigte Personen gilt noch eine Übergangsfrist bis Ende Juli 2021. Ausgenommen von der Impflicht sind Personen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Eine Impfpflicht kann also in begründeten Einzelfällen umgangen werden. Trotz aller Regelungen: Beim Masernschutzgesetz gibt es bis heute erhebliche verfassungsmäßige Bedenken und ungeklärte Fragen.

epd: Zum Beispiel?

Keller: Die Verfassung garantiert die freie Berufswahl. Wenn sich jemand nicht gegen die Masern impfen lassen will, ist er in seiner Berufswahl eingeschränkt. Erzieher könnten ihre Arbeit nicht mehr ausüben - das käme einem Berufsverbot gleich. Wollen Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen, kollidiert das mit der Schulpflicht. Die Verfassung garantiert außerdem die körperliche Unversehrtheit. Diese ganzen Themenkomplexe sind noch nicht restlos geklärt. Einige Verfahren dazu sind auch noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. So vernünftig das Ansinnen einer Impfpflicht auch sein mag - von der Verfassung her gedacht, ist sie nicht ganz ohne.

epd: Jahrzehntelang musste man sich in Deutschland gegen die Pocken impfen lassen. Wie war das damals geregelt?

Keller: Das Gesetz war ursprünglich von 1874, wurde erst 1976 geändert und dann 1983 abgeschafft. Der große Unterschied zur Debatte heute: Die Pockenimpfung wurde jedem verabreicht und nicht nur einer bestimmten Berufsgruppe. Ein Arbeitgeber hatte damit überhaupt nichts zu tun. Mit Blick auf die körperliche Unversehrtheit ist mir auch keine Verfassungsklage bekannt. Ich selbst habe ja auch noch eine Pockenimpfung bekommen. Das war damals offenbar so normal, dass es nicht infrage gestellt wurde.

epd: Halten wir fest: Die Einführung einer Impfpflicht wäre einfach, die Umsetzung schwierig ...

Keller: Es hängen einfach viele Detailfragen dran, so wie wir es auch jetzt beim Masernschutzgesetz sehen. Leute, die ihre Kinder nicht impfen lassen wollen oder denen es einfach egal ist, finden Alternativen. Leben betroffene Kinder in problematischen oder in bildungsfernen Familien, würde das für sie einen erheblichen Bildungsnachteil bedeuten, wenn sie wegen einer fehlenden Impfung nicht in die Kita dürften. Das Ganze hat also auch einen sozialen Aspekt. Insgesamt kommt mir die Debatte um die Corona-Impfpflicht ohnehin zu einer Unzeit.

epd: Warum?

Keller: Noch sind nicht genügend Impfdosen da, um alle Menschen zu impfen. Der Großteil der Bevölkerung weiß ja gar nicht, wann er überhaupt an der Reihe wäre. Und offenbar ist auch noch nicht geklärt, ob die aktuell verfügbare Impfung vor einer Erkrankung oder vor einer Infektion schützt. Auch wenn ich mich sofort gegen Corona impfen lassen würde, wenn ich könnte - die Menschen haben angesichts eines neuartigen Impfstoffs, der auch noch in Rekordzeit entwickelt und zugelassen wurde, Fragen. Das ist doch nicht verwunderlich. Dazu braucht es Aufklärung und Transparenz. Eine Impfpflicht würde meines Erachtens die Vorbehalte nur noch vergrößern.



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