Berlin (epd). Erste Impfstoffe gegen das Corona-Virus sind bereits zugelassen, doch noch nicht in Deutschland. Längst aber laufen Diskussionen darüber, wer zuerst geimpft werden soll - auf freiwilliger Basis. Sozialexperten werben schon länger dafür, gefährdete Personen wie Hochbetagte, Heimbewohnerinnen und -bewohner und Menschen mit Behinderung schnell zu immunisieren. Sie werden bestätigt von der Ständigen Impfkommission, die am 7. Dezember ihre lange erwarteten Empfehlungen veröffentlich hat.
Experten gehen davon aus, dass das Bundesgesundheitsministerium die vorgeschlagene Priorisierung in die Impfverordnung aufnimmt. Die soll Verteilungskonflikte um den zunächst knappen Impfstoff verhindern.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte dazu am 8. Dezember im Gesundheitsausschuss des Bundestages, dass Schätzungen zufolge im Januar zunächst drei bis fünf Millionen Impfdosen zur Verfügung stehen und im ersten Quartal elf bis 16 Millionen Dosen. Ab dem zweiten oder dritten Quartal sei möglicherweise ausreichend Impfstoff vorhanden, um ohne Prioritäten impfen zu können, sagte Spahn.
Für Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, ist die Sache eindeutig: "Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung müssen bei den Impfungen vorrangig berücksichtigt werden." Sie hätten ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung mit schwerem Verlauf durch Covid-19 und wohnten häufig in gemeinschaftlichen Wohnformen: "Daher ist eine Impfung dringend erforderlich, zum Schutz für die Einzelnen und die ganze Wohngruppe." Das gleiche gelte für die Betreuungskräfte in Einrichtungen der Behindertenhilfe, da sie "häufig körpernahe Unterstützung leisten".
Das sieht auch die Ständige Impfkommission so. Aufgrund von begrenzter Impfstoffverfügbarkeit sollen alle Menschen im Alter von über 80 Jahren, Heimbewohner, Pflegekräfte im ambulanten und stationären Bereich sowie Beschäftigte in Notaufnahmen und Covid-19-Stationen mit "sehr hoher Priorität" zuerst geimpft werden. Dann folgen in der nächsten Gruppe andere Beschäftigte in Pflegeheimen, Personen mit Behinderungen und Demenzpatienten sowie deren Betreuungspersonal. Das geht aus einem am 7. Dezember bekanntgewordenen Empfehlungsentwurf der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert-Koch-Institut hervor, der dem Evangelischen Pressedienst (epd) vorliegt.
Diese Personengruppen hätten ein besonders hohes Risiko für schwere oder tödliche Verläufe oder seien beruflich besonders exponiert oder hätten engen Kontakt zu besonders gefährdeten Menschen, hieß es. Insgesamt gehen die Fachleute von ungefähr 8,6 Millionen Menschen aus, die zuerst den Impfstoff erhalten werden.
Ziel sei es, schwere Covid-19-Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern, Personen mit einem erhöhten arbeitsbedingten Infektionsrisiko zu schützen sowie das Einschleppen des Erregers in besonders gefährdete Gruppen zu verhindern.
Der Vorsitzende der Stiko, Thomas Mertens, sagte, die Quantifizierung der Risiken habe ein klares Bild ergeben. Der größte Risikofaktor sei das Alter. Die Datenlage zeige überdies ein erhöhtes Risiko für Menschen mit Trisomie 21.
Wenn es gelinge, die sogenannten vulnerablen Gruppen mit Impfungen zu schützen, seien eine deutliche Entlastung des Gesundheitssystems sowie perspektivisch die Rücknahme von Restriktionen zu erwarten. Mertens sagte, es wäre eine denkbare Strategie der Länder, in Hotspots mit besonders vielen Infektionen zuerst zu impfen.
Die Stiko teilt die Bürger in unterschiedlich dringliche Kategorien ein, orientiert am Alter, an möglichen Vorerkrankungen und an den beruflichen Tätigkeiten. So folgen im Ranking später etwa jüngere Pflegekräfte, Bewohner von Asylbewerberheimen und Obdachloseneinrichtungen und "Personen mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen", etwa in der Fleischindustrie. In der nächsten Gruppe finden sich dann etwa Lehrerinnen, Erzieherinnen, Polizisten und Feuerwehrleute. Als letzte Impflinge sind "normale" Bürgerinnen und Bürger vorgesehen, die jünger als 60 Jahre alt sind.
Die Diakonie betonte, bei der Impfstrategie dürfe man "aber auch nicht die große Zahl der pflegenden Angehörigen vergessen". Angehörige, die mit einem pflegebedürftigen oder behinderten Menschen zusammenleben und mit ihm zur Impfung kommen, müssten gleich mitgeimpft werden, sagte Diakoniechef Ulrich Lilie. "Das Netz der sorgenden Familien trägt - unbemerkt vom Rampenlicht - in diesen Tagen eine große Last. Wir müssen es im Interesse aller stärken und immun gegen das Virus machen." Und er ergänzte: Menschen mit Behinderungen in Gemeinschaftseinrichtungen sowie schutzbedürftige Menschen in solchen Unterkünften benötigten ebenfalls raschen Zugang zur Impfung.
Kritik kommt von der FDP. "Menschen mit Behinderungen werden bei der Corona-Impfung übergangen. Insbesondere Menschen mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen sowie ihre Pflegerinnen und Pfleger müssen schnellstmöglich Zugang zum Impfstoff erhalten", sagte der teilhabepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Jens Beeck. Sie tauchten nicht bei der sehr hohen Priorität in den Impfempfehlungen auf. "Das ist nicht hinnehmbar. Menschen mit einem Pflegegrad von 4 oder höher müssen daher wie andere vulnerable Gruppen ebenfalls eine sehr hohe Priorität beim Zugang zu Impfungen erhalten."
Bevor aber überhaupt mit den Impfungen begonnen werden kann, muss die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) die Vakzine von Biontech/Pfizer und Moderna zulassen. Das will sie nach eigenen Angaben bis zum 29. Dezember erledigt haben. Realistisch ist also davon auszugehen, dass die Impfungen erst im neuen Jahr beginnen, denn noch muss das Gesundheitsministerium seine Verordnung in Kraft setzen.
Die Stiko-Empfehlungen fügen sich ein in die vorläufige Nationale Impfstrategie, die bereits einen Zwei-Stufen-Plan enthält. Zunächst werden von mobilen Teams der Impfzentren Pflegeheimbewohner und Menschen mit Behinderungen sowie deren Betreuerinnen und Betreuer und etwa Klinikpersonal geimpft. In der zweiten Phase kommt die erwachsene Bevölkerung an die Reihe. Hier übernehmen auch niedergelassene Ärzte und Betriebsärzte das Impfen. Im Sommer, so das Ministerium, würden vermutlich genügend Impfdosen zur Verfügung stehen.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte, zunächst eine kleinere Gruppe von Menschen in den Fokus zu nehmen. "Über acht Millionen Menschen scheinbar gleichberechtigt bei der Priorität auf Nummer eins zu setzen, kann nicht funktionieren", erklärte Vorstand Eugen Brysch. Deshalb müssten zunächst die Pflegebedürftigen und Schwerstkranken die Chance auf eine Impfung bekommen. Erst danach seien Menschen an der Reihe, die in medizinischen und pflegerischen Bereichen arbeiteten. Wenn die Bundesregierung jetzt von dieser klaren Rangfolge abweiche, mache das Pflegebedürftige "schnell zu Verlierern beim Kampf um die erste Impfung".