Berlin (epd). Die Armutsquote in Deutschland hat nach dem aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes mit 15,9 Prozent den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht. Im Vorjahr lag sie bei 15,5 Prozent. Der Verband warnt in der am 20. November in Berlin vorgestellten Studie, dass die Corona-Krise Armut und soziale Ungleichheit verschärfen werde.
Der Paritätische warf der Bundesregierung angesichts von 13,2 Millionen Menschen in Armut eine "armutspolitische Verweigerungshaltung" vor und forderte eine sofortige Anhebung der finanziellen Unterstützungsleistungen für arme Menschen sowie armutsfeste Reformen der Sozialversicherungen. Der Sozialverband VdK forderte die Bundesregierung auf, "endlich etwas zu tun".
"Die vorliegenden Daten zur regionalen Verteilung, zur Entwicklung und zur Struktur der Armut zeigen Deutschland als ein in wachsender Ungleichheit tief zerrissenes Land. Volkswirtschaftliche Erfolge kommen seit Jahren nicht bei den Armen an und in den aktuellen Krisen-Rettungspaketen werden die Armen weitestgehend ignoriert", kritisierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.
Die Befunde seien alarmierend: Bei allen seit Jahren besonders armutsbetroffenen Gruppen wie Alleinerziehenden, Arbeitslosen und kinderreichen Familien habe die Armut laut Studie von 2018 auf 2019 zugenommen. Die Armut sei 2019 im Vergleich zum Vorjahr in nahezu allen Regionen gewachsen. "Positive Entwicklungen, die zuletzt in den ostdeutschen Bundesländern zu beobachten waren, sind gestoppt", heißt es in dem Bericht des Sozialverbandes. In Ostdeutschland sei die Quote von 17,5 auf 17,9 Prozent gestiegen.
Der Paritätische stützt sich auf den Mikrozensus des Statistischen Bundesamts. Bei der Berechnung der Armutsquote zählt dem Bericht zufolge jede Person als einkommensarm, die mit ihren Einkünften unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Eingerechnet wird das gesamte Nettoeinkommen des Haushalts inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag oder sonstiger Zuwendungen. Die Armutsschwelle für einen Single betrug 2019 beispielsweise 1.074 Euro, für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2.256 Euro.
Armutsgeografisch zerfällt Deutschland in zwei Teile: Im gut gestellten Süden haben Bayern und Baden-Württemberg eine gemeinsame Armutsquote von 12,1 Prozent. Der gesamte Rest der Republik komme auf eine Quote von 17,4 Prozent. Außerhalb von Bayern und Baden-Württemberg lebt durchschnittlich mehr als jeder Sechste unterhalb der Armutsgrenze.
Das problematischste Bundesland bleibe Nordrhein-Westfalen: Seit 2006 sei die Armutsquote in dem bevölkerungsreichen Bundesland zweieinhalbmal so schnell gewachsen wie die gesamtdeutsche Quote. Armutstreiber in NRW sei das Ruhrgebiet mit einer Quote von 21,4 Prozent. "Das größte Ballungsgebiet Deutschlands muss damit zweifellos als Problemregion Nummer 1 gelten", betonen die Sozialexperten.
Der VdK findet es "erschreckend", dass auch erwerbstätige Menschen betroffen sind. "Sie haben nicht genug zum Leben, und für die Rente können sie auch nicht vorsorgen." Arbeit und Rente müssten zum Leben reichen", sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele.
Der Paritätische warnt vor einer drastischen Verschärfung der Armut in der Corona-Pandemie. Besonders betroffen seien geringfügig Beschäftigte, Leiharbeiter sowie junge Menschen, die coronabedingt von wachsender Arbeitslosigkeit betroffen seien. "Es gibt genügend Hinweise darauf und wir sollten uns darauf einstellen, dass die Corona-Krise in Deutschland nicht nur mit einer Vergrößerung von Ungleichheit, sondern auch mit einer Zunahme der Einkommensarmut einhergeht", sagte Schneider.
Der Paritätische fordert zur Beseitigung von Armut, die Regelsätze für die sieben Millionen Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV und Leistungen der Grundsicherung von derzeit 432 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen auf 644 Euro anzuheben. Außerdem seien die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Reformen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung nötig.
Der VdK fordert, den Mindestlohn auf 13 Euro anzuheben. Außerdem sei es notwendig, prekäre Beschäftigungen wie Leiharbeit und Minijobs weiter einzudämmen.