Frankfurt a.M. (epd). Im Garten des Alten- und Pflegeheims der Budge-Stiftung im Frankfurter Stadtteil Seckbach beratschlagen der Geschäftsführer, mehrere Mitarbeiter und der Rabbiner des Hauses. Ein Bewohner kommt mit dem Rollator vorbei, grüßt jeden höflich, vor dem Rabbiner sagt er: "Heil Hitler!". Was die anderen schockiert, bringt den Rabbiner zum Lachen. Rabbi Andrew Steiman, der über die Begebenheit mit Kurt Sebald vor wenigen Wochen berichtet, kennt die Geschichte hinter dem Zitat. Der Vater des 91-Jährigen sei Apotheker gewesen, erzählt er. Als ein Nazifunktionär dessen Geschäft betreten und "Heil Hitler!" gerufen habe, habe der Apotheker geantwortet: "Heil du ihn selber!". Sein Vater habe auch kranken Juden kostenlos Medikamente zukommen lassen und die Kritik von Mitarbeitern daran zurückgewiesen, ergänzt darauf Sebald.
Juden und Nichtjuden verbringen gemeinsam ihren Lebensabend - mit diesem Konzept ist das Alten- und Pflegeheim nach Angaben von Geschäftsführer Thorsten Krick in Europa einzigartig. Zurück geht es auf Henry Budge (1840-1928). Der gebürtige Frankfurter jüdischen Glaubens machte sich und der Stadt am 20. November vor 100 Jahren ein besonderes Geschenk. An seinem 80. Geburtstag errichtete der in den USA zu Vermögen gekommene Kaufmann die "Henry und Emma Budge-Stiftung". Sie sollte der Fürsorge dienen, und Budge bestimmte: "Die Wohltaten sollen Juden und Christen je zur Hälfte zugutekommen." Inzwischen ist die Gruppe der Christen auf Nichtjuden erweitert worden.
"Für die Bewohner ist es völlig normal, zweimal im Jahr Neujahr zu feiern, das christliche und das jüdische, oder zweimal im Jahr Fasching, nämlich auch das jüdische Purimfest", erzählt Krick. Der Geschäftsführer schätzt die besondere Atmosphäre: "Hier zu leben oder zu arbeiten, ist wie täglich Bildungsurlaub." Von den derzeit 175 Menschen im Betreuten Wohnen seien 34 jüdischer Religionszugehörigkeit, unter den 130 Bewohnern des Pflegeheims seien es derzeit fünf. Eine prominente Bewohnerin ist die Auschwitz-Überlebende Trude Simonsohn (99), Ehrenbürgerin der Stadt Frankfurt.
Die große Wohnanlage bietet zwei koschere Küchen und eine nichtkoschere an, den Festsaal flankieren zu beiden Seiten die exakt gleich große christliche Kapelle und jüdische Synagoge. Der Advent und das Chanukka-Fest würden gemeinsam gefeiert, berichtet Rabbiner Steiman, der von der Budge-Stiftung angestellt ist. Dann steht der Adventskranz neben dem Chanukka-Leuchter, und alle Feiernden singen das Advents- und Weihnachtslied "Tochter Zion".
Das Gespräch zwischen Juden und Christen in der hauseigenen Veranstaltungsreihe bereichere sie, sagt die Bewohnerin Henriette Labbé (96). "Wir finden eine gemeinsame Sprache", etwa jüngst im Gespräch über das biblische Buch Hiob. Elisabeth Heinrich (82) schätzt die gemeinsamen Feste, zu denen auch viele Christen in die Synagoge kämen. Die über 80-jährige Renate Kölliker hat erstmals im Budge-Heim jüdische Nachbarn kennengelernt. Nun lernt sie Hebräisch übersetzen und will das Judentum genau kennenlernen. "Das Haus ist ein Kleinod", sagt die dort tätige evangelische Pfarrerin Melanie Lohwasser. "Es zeigt, dass nach der Schoah wieder ein Zusammenleben im Alltag ohne Berührungsängste möglich ist."
Das selbstverständliche Miteinander war nicht immer so, wie Rabbiner Steiman erzählt. In den 80er Jahren habe ihn der katholische Pfarrer im Haus nicht gegrüßt, und es habe keine gemeinsamen Andachten gegeben. Selbst der NS-Opfer sei nicht gedacht worden, obwohl es damals noch mehr Überlebende des antisemitischen Terrors unter den Bewohnern gab. Der damalige jüdische Geschäftsführer habe befürchtet, den nichtjüdischen Bewohnern sonst "auf den Schlips zu treten".
"Wir wussten nicht, ob das Experiment des satzungsmäßig bestimmten Zusammenlebens von Juden und Christen in einer gemeinsamen Einrichtung - und dies nach den Schrecken des Holocaust - gelingen würde", sagte der Frankfurter Historiker, Autor und ehemalige stellvertretende Stiftungsvorsitzende Arno Lustiger (1924-2012) im Jahr 2000 im Rückblick. "Heute können wir sagen: das Experiment ist gelungen." In den Folgejahren haben Bewohner die Sitte eingeführt, drei Gedenktage im Jahr zur Erinnerung an die NS-Opfer zu begehen.
23 frühere Bewohner wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Eine Bewohnerinitiative hat dafür gesorgt, dass sie nicht vergessen werden: Vor dem Gebäude erinnern 23 Granitstelen an sie, eine Metalltafel hält ihre Namen in lateinischer und hebräischer Schrift fest. "Mögen ihre Seelen eingebunden sein in den Bund des Lebens", steht darunter.