Berlin (epd). "Wie will man eine Disziplin hochschulisch-akademisch entwickeln, wenn nicht geforscht wird?", fragt Frank Weidner, Professor an Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Es fehle in Deutschland noch immer an Grundlagenforschung: "Da muss erheblich mehr passieren mit dem Ziel, systematischer, staatlich finanzierter Pflegeforschung." Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Professor Weidner, Ihr Institut hat in den 20 Jahren seines Bestehens 150 Forschungsprojekte abgeschlossen. Können Sie sich noch erinnern, was die erste offizielle Publikation war?
Frank Weidner: Ja, selbstverständlich. Die Untersuchung "Ansätze zur Pflegeprävention". Heute klingt das im Rückblick beinahe komisch, denn die Idee dahinter lautete: Machen Sie mal was gegen Pflegebedürftigkeit, bevor sie losgeht. Mir passte das ganz gut, denn ich hatte mich schon lange mit dem Thema Prävention beschäftigt. Diese erste Studie hat der Deutsche Caritasverband finanziert. Die Resultate waren dann auch Basis für eine ganze Reihe von Studien zum Thema präventive Hausbesuche bei Senioren, die es nach vielen Jahren ja als Begriff und als Vorhaben sogar in den aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung geschafft haben. Umgesetzt hat die Regierung davon jedoch noch nichts.
epd: Welches Projekt haben Sie rückblickend als besonders erfolgreich und richtungweisend für die Pflegepraxis in Erinnerung?
Weidner: Da ist eine Antwort wirklich schwierig. Denn es gibt eine Reihe von Studien, die die Politik zumindest beeinflusst haben. Aber eine Gewichtung vorzunehmen, ist nicht einfach. Ich zögere etwas, weil die Verbindung von Forschung und praktischer Pflegearbeit selten eins zu eins nachzuzeichnen ist.
epd: Welchen Grund hat das?
Weidner: Das liegt an der Komplexität des Themas Pflege. Häufig fokussieren sich unsere Projekte auf Bildungsfragen. Oder auf Datenerhebungen, die für die Einrichtungen und Träger sehr wichtig sind, aber manchmal auch nur auf Umwegen die Politik berühren und die Praxis verändern. Sehr hohen praktischen Nutzen hatten zum Beispiel die Arbeiten zu den Pflege-Thermometern.
epd: Wie lange liegt das zurück?
Weidner: Für das Pflege-Thermometer 2007 haben wir eine der größten Studien gemacht, an der sich über 10.000 Pflegekräfte beteiligt haben. Und es gibt noch eine markante Zahl aus dieser Untersuchung, die in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erzeugt hat: Wir haben damals als erste darauf hingewiesen, dass rund 50.000 Stellen in der Pflege im Krankenhausbereich zwischen 1995 und 2005 abgebaut wurden. Diese Zahl hat damals mittelbar das erste Pflegestellenförderprogramm der Regierung ausgelöst. Dieser radikale Personalabbau mit all seinen negativen Folgen war bis dahin weitgehend unter dem Radar geblieben.
epd: Was hat zur Gründung des DIP geführt? Wurde einst schlicht nicht genug oder nicht tief genug geforscht?
Weidner: Damals gab es viel zu wenig Forschungsmöglichkeiten zum Thema Pflege. Es fehlte an grundlegendem Wissen. Zwar gab es bereits etliche Studiengänge für Pflegemanagement oder Pflegepädagogik vor allem an den Fachhochschulen, aber das reichte längst nicht aus. Wie will man eine Disziplin hochschulisch-akademisch entwickeln, wenn nicht geforscht wird? Weil es kaum systematische Pflegeforschung gab, haben wir das Institut gegründet.
epd: Hat sich 20 Jahre später was zum Besseren entwickelt?
Weidner: Leider nicht, das muss man in aller Klarheit sagen. Auch deshalb muss es das DIP heute immer noch geben. Es kann immer noch wichtige Forschungsbeiträge leisten. Für mich ist das ein klarer Fingerzeig, auch weil es hierzulande, anders als in vielen vergleichbaren Ländern, noch immer keine grundlegende Pflegeforschung gibt. Deutschland tut viel zu wenig für die Innovation und Entwicklung der Pflege mittels Wissenschaft und Forschung. Da muss erheblich mehr passieren mit dem Ziel, systematischer, staatlich finanzierter Pflegeforschung. Wenn man sieht, wie viel Geld in andere Bereiche der Forschung fließt, dann mutet es schon merkwürdig an, dass die Politik nicht begreift, wie wichtig eine besser ausgestattete Forschungslandschaft in der Pflege ist.
epd: Gelingt es bei Ihrer Arbeitsweise immer, den Elfenbeinturm der Wissenschaft zu verlassen und die Ebene der praktischen Anwendung zu erreichen?
Weidner: Das würde ich schon sagen. Wir sind eine anwenderorientierte Forschungseinrichtung, mit diesem Ansatz haben wir uns gut etabliert. Das hängt auch damit zusammen, dass unsere Auftraggeber und Projektförderer, etwa Bundes- und Landesministerien, Stiftungen, Verbände oder Einrichtungen, recht konkrete Fragestellungen vor Augen haben, auf die wir eine Antwort geben sollen. Daraus resultiert aber ein anderes Problem: Es ist schwierig, organisatorisch wie finanziell, parallel dazu Vorhaben der Grundlagenforschung umzusetzen. Um das zu leisten, bräuchte es eine institutionelle Förderung etwa von öffentlicher Seite, und die fehlt uns. Wenn man eine feste Summe, 500.000 Euro oder eine Million im Jahr zur Verfügung hätte, könnte man anfangen, einen eigenen Forschungsplan zu erstellen. Das ist ein Grundproblem, das bundesweit fortbesteht.
epd: Was müsste denn alles näher untersucht werden?
Weidner: Die Liste der zu klärenden Fragen ist lang. Ich nenne mal einige Probleme, auf die die Politik längst eine wissenschaftlich fundierte Antwort gefunden haben müsste: Personalbemessung, Pflegequalität oder viele Aspekte der Entstehung und Auswirkungen von Pflegebedürftigkeit. Für all das gibt es so gut wie keine unabhängige Pflegeforschung. Das ist ein Riesenmanko. Eigentlich ist das eine fortgesetzte Anklage des bundesweiten Mangels an ausreichender Pflegeforschung. Im Grunde genommen stehen wir immer noch am ganz am Anfang. Wir sind in dieser Sache noch ein Entwicklungsland. Es bestehen weder an den Hochschulen nennenswerte Strukturen zur Pflegeforschung noch gibt es etwa ein Pflegeforschungsinstitut, das von Bundesmitteln getragen würde.
epd: Was würde sich dadurch verbessern?
Weidner: Dann hätte man genügend Ressourcen, um all die Themenbereiche, die ich schon genannt habe, wissenschaftlich ergründen zu können. Es geht um die systematische und kontinuierliche Arbeit daran, das ist wichtig. Dann könnte man zeigen, mit welchen Interventionen, mit welchen Pflegemaßnahmen man Menschen pflegerisch effektiv helfen kann. So könnte man besser und schneller auch auf besondere Herausforderungen in der Pflege reagieren. Das wäre jetzt auch in Zeiten der Pandemie besonders wichtig. Hier müsste man ermitteln, wo der pflegerische Beitrag bei der Krisenbewältigung liegt und wie man den stärken und ausbauen kann. Eine Antwort auf die Frage, wie viel Personal braucht man eigentlich für wie viele Patienten im Krankenhaus, kann man nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Dazu braucht man eine grundlegende Forschung. Das gleiche gilt auch für das Dauerthema Qualität in der Pflege in den Altenheimen.
epd: Da fallen mir zuerst die damaligen Pflegenoten ein.
Weidner: Genau. Auch die sind damals mehr oder weniger übers Knie gebrochen worden. Und sie sind genau daran gescheitert, dass sie keine nachvollziehbare Grundlagen der Pflegeforschung hatten. Leider lernt die Politik aus solchen Fehlern nicht. Sie macht immer diese Ad-hoc-Übungen und wünscht sich möglichst schnelle Lösungen von Problemen. Doch das funktioniert leider oft nicht, wie man sieht. Wenn sich da nichts Grundsätzliches ändert, werden wir in 20 Jahren auch nicht viel weiter sein.
epd: Können Sie im DIP überhaupt unabhängig agieren? Geldgeber erwarten von Ihnen doch bestimmte Resultate. Wie passt das zusammen?
Weidner: Da ist was dran, aber das muss man auch relativieren. Wir sind, das kann ich sicher sagen, von den Auftraggebern geschätzt als unabhängiges Institut, das einer wissenschaftlichen Arbeitsweise verpflichtet ist. Wir legen viel Wert auf Transparenz. Und wir legen in jedem Projekt offen, wer es finanziert und was wir methodisch gemacht haben. Diese Form der Transparenz haben wir, und die nehmen wir auch für uns in Anspruch. Gutachten nur im Lichte dessen, was der Auftraggeber gerne lesen will, machen wir nicht. Aber klar ist auch: Die Unabhängigkeit hängt ja auch damit zusammen, dass man die notwendigen Mittel für Forschungen hat. Die losgelöst sind von einem bestimmten Zweck, unabhängig von zeitlichen Vorgaben oder von inhaltlichen Schwerpunkten, die die Politik gerade setzt. Diese Form von Unabhängigkeit ist äußerst schwierig ohne institutionelle Förderung herzustellen. Die haben wir hier zumeist nicht und die gibt es aber auch an anderer Stelle in der bundesdeutschen Forschungslandschaft leider nicht.
epd: Ihre Ergebnisse habe immer auch eine politische Brisanz. Ist Ihnen das bewusst?
Weidner: Ja, sicher. Wir wissen, dass wir den Finger oftmals in die Wunden legen. Das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Ich erinnere an unsere Reihe zu den Pflege-Thermometern seit den Jahren 2002/2003, die der Politik ja den Zusammenhang von Versorgungsqualität und Personalsituation deutlich gemacht hat. Wir haben immer wieder mit unseren Daten auf diese Nöte hingewiesen, doch die Grundproblematik ist bis heute von der Politik nicht gelöst. Weil die Sache nicht mit den richtigen politischen Mitteln angegangen wird. Es gab ja zig Vorschläge, nicht nur von uns, sondern auch von den Sozialverbänden, aber die wurden nur in den seltensten Fällen ernsthaft aufgegriffen. Auch, weil die Lösungen etwa zur besseren Bezahlung richtig teuer werden, denn die Pflege ist eine riesige Berufsgruppe. Gut zu sehen ist das auch aktuell an der Corona-Prämie für Pflegekräfte. Die Politik hat sich richtig schwergetan, denn sie weiß, das geht gleich in die Milliarden.
epd: Mischen Sie sich bewusst ein in die politischen Debatten, auch in heikle Themen wie zum Beispiel den Streit über die Notwendigkeit von Pflegekammern?
Weidner: Ja. Wir haben oft unsere Positionen deutlich gemacht. Zurückhaltung ist nicht angebracht, wenn man etwas zum Besseren wenden will und Fakten und Daten dazu auch vorliegen hat. Zu den Pflegekammern haben wir immer gesagt, dass wir sie für richtig halten, weil die Pflegekräfte generell berufsständisch schlecht organisiert sind. Auch die erste Grundabstimmung über eine Pflegekammer hat unser Institut mitorganisiert. Aufgrund unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse haben wir hier einen klaren Standpunkt, und der muss anderen nicht unbedingt gefallen.
epd: Die Reform der Pflegeausbildung hin zur Generalistik haben Sie sich schon vor Jahren auf die Fahnen geschrieben und maßgeblich beeinflusst. Sind Sie mit dem jetzigen Ergebnis vollauf zufrieden?
Weidner: Nein, damit ist wirklich niemand völlig zufrieden. Es ist letztlich nach langen Debatten ein Kompromiss geworden mit etlichen offenen Fragen. Wir haben unter anderem unsere Ergebnisse aus dem Projekt "Pflegeausbildung in Bewegung" für die Entwicklungen zur Verfügung gestellt. Da hatten wir schon gesehen, dass bei der Generalistik durchaus etwas zusammenwachsen kann, was zusammengehört. Man muss das künftig genau mit wissenschaftlichem Interesse beobachten und sehen, wie die Umsetzung der Generalistik und der Wahlmöglichkeiten im dritten Ausbildungsjahr zur Altenpflege oder Kinderkrankenpflege funktionieren. Wir haben jetzt schon ganz gute Einblicke ins Feld, denn wir haben in diesem Jahr schon Hunderte Schulen vor allem in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz beraten, wie sie sich künftig für die Generalistik aufstellen müssen. Insgesamt kann man sagen, dass die Umstellung trotz Corona nicht aus dem Ruder läuft.
epd: Personal in der Pflege fehlt allerorten. Ist die Generalistik nun das Allheilmittel für alle Probleme?
Weidner: Sicher nicht. Es gibt aber mehr Interesse an der Ausbildung und in manchen Regionen ist die Nachfrage nach Schulplätzen größer als das Angebot. Hier müssen die Träger sicher reagieren. Man muss auch sehen, dass es eine weitere Schiene der Ausbildung im Pflegeberufegesetz gibt, nämlich die akademische. Es geht um primärqualifizierende Studiengänge in der Pflege, um Höherqualifizierungen und neue Aufgaben für Pflegeberufe. Hier passiert aber einfach noch zu wenig. Die Finanzierung der Hochschulen ist nicht klar. Hier werden Chancen vergeben, den Pflegeberuf aufzuwerten, interessanter zu machen und weitere Bewerbergruppen anzusprechen. Viele Ressourcen werden immer noch nicht konsequent genutzt, um mehr Fachkräfte zu finden und im Beruf zu binden. Man hatte in den vergangenen Jahren eher den Blick auf den unteren Rand des Ausbildungsspektrums gelegt und das scheint mir heute auch noch so zu sein.