Mainz (epd). Schwerbehinderte Arbeitnehmer genießen aufgrund ihrer Behinderung Schutz vor "Mehrarbeit" und können sich von ihr freistellen lassen. Das bedeutet aber nicht, dass das generell auch Rufbereitschaften an Wochenenden betrifft, entschied das Landesarbeitsgericht (LAG) Rheinland-Pfalz in Mainz in einem am 21. Oktober veröffentlichten Urteil.
Im Streitfall ging es um einen bei einer Gemeinde angestellten Wassermeister, der mit einem Grad der Behinderung von 40 mit schwerbehinderten Arbeitnehmern gleichgestellt ist. Zu den Aufgaben des Mannes gehörte die Sicherstellung der Trinkwasserversorgung in der Gemeinde. Der Arbeitgeber hatte deshalb Bereitschaftsdienste von den Beschäftigten verlangt, die auch Rufbereitschaften am Wochenende vorsahen.
Davon wollte der klagende Wassermeister befreit werden. Er verwies auf ein Wirbelsäulenleiden und ärztliche Atteste. Der Arbeitgeber kam dem Wunsch nur teilweise nach. Werktags sollte der Mann "keine Mehrarbeit in Form von Rufbereitschaft" mehr leisten. Nur an Wochenenden und Feiertagen müsse er sich bereithalten, so der Arbeitgeber.
Dagegen klagte der Wassermeister. Und verwies auf die Bestimmungen des Sozialgesetzbuch IX: "Schwerbehinderte Menschen werden auf ihr Verlangen von Mehrarbeit freigestellt." Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) habe das bereits am 21. November 2006 so entschieden (Az.: 9 AZR 176/06).
Als Mehrarbeit gilt danach jede Arbeit, die über die normale gesetzliche Arbeitszeit, "also über werktäglich acht Stunden einschließlich der Bereitschaftsdienste" hinausgehe, argumentierte der Kläger. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg habe am 21. Februar 2018 zudem geurteilt, dass Bereitschaftsdienste als "Arbeitszeit" zu werten seien. Der Kläger hielt es arbeitsorganisatorisch durchaus für möglich, dass er von der Rufbereitschaft befreit werden könne. Andere Beschäftigte könnten seine Rufbereitschaft übernehmen.
Der Arbeitgeber argumentierte dagegen, dass man dem Kläger bereits entgegengekommen sei, indem er werktags keinen Bereitschaftsdienst leisten müsse. Die Rufbereitschaft an Wochenenden und Feiertagen sei zudem keine "Mehrarbeit".
Sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem LAG hatte der Kläger keinen Erfolg. Dieser habe "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch darauf, gänzlich von der Rufbereitschaft freigestellt zu werden" - auch nicht am Wochenende, urteilte das LAG.
Zwar können schwerbehinderter Arbeitnehmer verlangen, von "Mehrarbeit" befreit werde. Bloße Rufbereitschaft werde aber nach der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmung gar nicht als "Mehrarbeit" erfasst, weil es sich im arbeitsschutzrechtlichen Sinne nicht um "Arbeitszeit" handele. Der Kläger könne seinen Aufenthaltsort frei bestimmen und etwa zu Hause bleiben. Nur wenn er im Notfall ansonsten in kürzester Zeit am Arbeitsplatz sein müsse, sei nach der EuGH-Rechtsprechung auch die Rufbereitschaft als "Arbeitszeit" zu werten. Hier könne der Kläger in Notfällen aber nach eigenem Ermessen reagieren und den Bereitschaftsdienst anderer Kollegen hinzuziehen, befanden die Richter.
Die Vorschrift im Sozialgesetzbuch IX verstehe unter "Mehrarbeit" zudem "jede über acht Stunden werktäglich hinausgehende Arbeitszeit". Damit sollen schwerbehinderte Beschäftigte allein vor "werktäglicher Mehrarbeit" und zu langen Arbeitszeiten geschützt werden. Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit als solche seien davon nicht umfasst. Hier habe der Arbeitgeber dem Kläger zugesagt, werktags keine Rufbereitschaften leisten zu müssen. Damit habe er einen möglichen Freistellungsanspruch an Werktagen bereits erfüllt.
Schwerbehinderte Beschäftigte haben nach den gesetzlichen Bestimmungen zwar auch "Anspruch auf Gestaltung der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit unter Berücksichtigung der Behinderung und ihrer Auswirkungen auf die Beschäftigung". Der Kläger habe aber nicht dargelegt, warum seine Behinderung eine Rufbereitschaft am Wochenende unmöglich mache, er werktags aber seine Arbeit verrichten könne. Er habe nur pauschal auf sein Wirbelsäulenleiden verwiesen. Auch die vom Kläger angeführte psychische Belastung, die mit der Wochenendrufbereitschaft einhergehen solle, sei nicht nachvollziehbar.
Das LAG-Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Mainzer Richter haben die Revision zum BAG in Erfurt zugelassen, weil höchstrichterlich noch nicht geklärt ist, inwieweit Rufbereitschaften an Wochenenden als "Mehrarbeit" zu werten sind.
Az.: 8 Sa 438/19
Az.: C-518/15 (EuGH, Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit)