Berlin (epd). "Es dürfen keine Kliniken schließen, nur weil sie sich nicht rentieren. Schließlich fragt auch bei der Feuerwehr niemand, ob sich die Vorhaltekosten rechnen", sagt Grit Genster, Gesundheitsexpertin bei der Gewerkschaft ver.di. Und: Nur wenn die Bezahlung in der Pflege besser werde und die Arbeitsbedingungen akzeptabel seien, lasse sich mehr Personal finden, um künftig auch in Krisenzeiten die Gesundheitsversorgung zu sichern. Die Fragen stellte Dirk Baas
epd sozial: Die Corona-Pandemie hat die Debatte über die Zukunft der deutschen Kliniklandschaft neu befeuert. Es tobt ein Streit darüber, ob große Krankenhauskomplexe fachlich ausgebaut und im Gegenzug kleine Häuser in der Fläche geschlossen werden sollen. Was sind die Erkenntnisse aus dem bisherigen Verlauf der Krise?
Grit Genster: Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass es in den Regionen ein abgestimmtes Miteinander der Kliniken unterschiedlicher Versorgungsstufen braucht. Auch nach der Krise muss neben der erforderlichen Spezialisierung eine flächendeckende Grundversorgung in ländlichen Räumen und strukturschwachen Teilen der Ballungsgebiete gesichert sein. Die Menschen müssen sich überall auf eine gute Gesundheitsversorgung verlassen können.
epd: Aber ist das auch bezahlbar?
Genster: Es dürfen keine Kliniken schließen, weil sie sich nicht rentieren. Schließlich fragt auch bei der Feuerwehr niemand, ob sich die Vorhaltekosten rechnen. Gesundheitsversorgung ist Daseinsvorsorge. Über die Krankenhausplanung muss politisch entschieden werden, nicht durch Markt und Wettbewerb. Gesundheit ist keine Ware.
epd: Das haben die Schöpfer der Diagnosis Related Groups (DRG), aber anders gesehen. Die Fallpauschalen sollten Rationalisierungen fördern ...
Genster: Die DRGs haben auch zu Tarifflucht beigetragen. Es wurde am Personal gespart. An der Anzahl, vor allem in der Pflege und bei der Bezahlung. Beim Finanzierungssystem über Fallpauschalen sehen wir grundsätzlichen Änderungsbedarf. Die Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen ist ein erster richtiger Schritt. Es müssen weitere folgen. Das DRG-System insgesamt sollte durch eine bedarfsgerechte Finanzierung ersetzt werden, um eine hochwertige Versorgung und gute Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.
epd: Derzeit ist die Personaluntergrenze ausgesetzt, aber die Debatte läuft schon, ob man überhaupt wieder zur Vor-Corona-Regelung zurückkehren sollte?
Genster: Wir bewerten die Inkraftsetzung der Pflegepersonaluntergrenzen für die Bereiche Intensivmedizin und Geriatrie als einen ersten und überfälligen Schritt in die richtige Richtung. Doch sind Untergrenzen weit davon entfernt, eine bedarfsgerechte Versorgung zu ermöglichen. Sie sind das Minimum, mit dem eine akute Patientengefährdung ausgeschlossen werden soll. Die pauschale Aussetzung war der falsche Weg.
epd: Warum?
Genster: Die erfolgreiche Bekämpfung des Coronavirus erfordert mehr und nicht weniger Personal. Wir fordern daher die rasche Einführung einer bedarfsgerechten Personalbemessung. Mit der "PPR 2.0" liegt das geeignete Instrument vor, mit dem gute Pflege im Krankenhaus erreicht werden kann. Der Bundesgesundheitsminister steht in der Pflicht, das jetzt schnell per Gesetz auf den Weg zu bringen.
epd: Muss nicht viel mehr ausgebildet werden? Und auch viel mehr Zuwanderung von Pflegekräften erfolgen?
Genster: Der Fachkräftemangel ist hausgemacht. Viele Pflegekräfte, die ihren Beruf lieben, haben ihn aufgegeben, weil sie die alltägliche Mangelsituation nicht mehr ertragen konnten oder wollten. Andere haben ihre Arbeitszeit reduziert, um sich zu schützen. Etwa jeder vierte Pflege-Azubi bleibt laut Statistischem Bundesamt ohne Abschluss. Schätzungsweise zehn bis 15 Prozent fallen durch die Abschlussprüfung. Dadurch gehen jedes Jahr über 13.000 Pflegefachkräfte verloren.
epd: Was ist dagegen zu tun?
Genster: Mehr Zeit für Praxisanleitung, gute Bedingungen in der Schule und individuelle Betreuung könnten diese Zahl verringern. Wenn die Personalausstattung in den Kliniken gut ist, wenn es verlässliche Arbeitszeiten und gesunde Arbeitsbedingungen gibt, dann bleiben die dringend benötigten Fachkräfte im Beruf. Und viele würden wieder in ihren ursprünglich erlernten Beruf zurückkommen beziehungsweise ihre Arbeitszeit wieder auf Vollzeit aufstocken. Pflege ist ein wunderbarer Beruf, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.
epd: Ohne deutliche finanzielle Anreize wird kaum mehr Personal zu finden sein. Aber wer soll die Mehrkosten tragen?
Genster: In den vergangenen Wochen wurde die Leistung der Beschäftigten im Gesundheitswesen beklatscht, hoch gelobt und geschätzt. Applaus und warme Worte sind schön, doch zu Recht erwarten die Beschäftigte jetzt auch eine finanzielle Anerkennung. Mit dieser Erwartung führen wir die Tarifverhandlungen für den Öffentlichen Dienst bei den Kommunen und beim Bund.
epd: Bei den Arbeitgebern sitzt das Geld selten locker ...
Genster: Ja. In ersten Beratungen mit den Vertretern der kommunalen Arbeitgeber wurde jedoch deutlich, dass sie eine echte Anerkennung in Form einer nachhaltigen Tariferhöhung ablehnen. Damit missachten sie die tagtägliche Leistung, vor allem in der Krise. Die vollständige Refinanzierung von Tariferhöhungen für das Pflegepersonal ist gesetzlich seit 2020 gesichert.