sozial-Branche

Pflege

Interview

Experten: Rechtliche Zweifel an Lage in Pflegeheimen




Ulrike Kempchen
epd-bild/BIVA-Pflegeschutzbund
Trotz der Lockerungen nach dem Corona-Lockdown ist der Kontakt von alten Menschen in Heimen zu ihren Angehörigen und zur Außenwelt weiter eingeschränkt. Nach Einschätzung der Leiterin der Rechtsberatung des Biva-Pflegeschutzbundes, Ulrike Kempchen, kommt es dabei zu Rechtsverletzungen.

Einen zweiten Corona-Lockdown für Heimbewohner soll es nach dem Willen der Bundesregierung nicht geben. Die Leiterin der Rechtsberatung beim Biva-Pflegeschutzbund, Ulrike Kempchens sagt, Seniorenverbände hatten "von Anfang Zweifel, ob die massive Einschränkung der Grundrechte alter Menschen gerechtfertigt war". Nach Einschätzung der Juristin kommt es weiterhin zu Rechtsverletzungen. Mit ihr sprach Bettina Markmeyer.

epd sozial: Frau Kempchen, wie sieht es gegenwärtig mit Besuchen und Ausgang für die Heimbewohnerinnen und -bewohner aus?

Ulrike Kempchen: Gegenwärtig ist es in allen Bundesländern möglich, seine Angehörigen zu besuchen. Aber die Ausführungen sind extrem unterschiedlich. Welche Rechte man hat, hängt jetzt ein Stück weit davon ab, in welchem Bundesland man wohnt. Es gibt Bundesländer, die die Kontaktmöglichkeiten und den Ablauf von Besuchen sehr detailliert regeln bis dahin, ob man ins Zimmer darf oder wo die Maske zu tragen ist. In anderen Ländern ist sehr wenig geregelt.

epd: Wer entscheidet dann?

Kempchen: Dann bestimmt die Einrichtungsleitung darüber, wie oft, wann und in welcher Form die Bewohner Besuch bekommen. Es gibt weiterhin Fälle, wo Besuch nur einmal in der Woche möglich ist, mit vorheriger Ankündigung und zeitlich beschränkt. Gerechtfertigt wird das damit, dass die Einrichtungen die Corona-Auflagen erfüllen müssen. Wir haben auch Meldungen, dass an Wochenenden Besuche nicht möglich sind, weil nicht genug Personal da ist. Es gibt aber auch gute Beispiele: Einrichtungsträger, die Personal eingestellt haben, das nur für die Koordination von Besuchen da ist und über den Corona-Rettungsschirm finanziert wird.

epd: Wie sind diese Unterschiede rechtlich zu werten?

Kempchen: Wir haben rechtliche Zweifel, dass das korrekt ist. Wenn die Verantwortung auf die Einrichtungsträger übertragen wird, macht das den Träger des Heims, mit dem der Bewohner nur einen zivilrechtlichen Vertrag hat, zum Herr über seine Grundrechte. Der Zugang zum Zimmer - rechtlich gesehen ist das die Wohnung eines Pflegebedürftigen - ist den Angehörigen zum Beispiel in den wenigsten Einrichtungen wirklich möglich. Sie wissen nicht, wie es im Zimmer aussieht, ob alles in Ordnung ist. Uns ist außerdem aufgefallen, dass große Ketten von Heimbetreibern häufig pauschale Vorgaben machen, die streng sind und an die sich der einzelne Heimleiter zu halten hat.

epd: Gibt es weiter Ausgangsbeschränkungen?

Kempchen: Wir hatten ja während des Lockdowns komplette Ausgangsverbote, die nirgendwo geregelt waren. In keiner Landesverordnung stand, dass die Menschen nicht rausgehen dürfen - aber es wurde so gehandhabt. Wir haben schon damals gesagt: Das ist eine freiheitsentziehende Maßnahme. Wodurch ist die gedeckt, wenn alle anderen Menschen keine Ausgangssperre haben? Das hat man mittlerweile verstanden. Grundsätzlich gilt: Kein Heim darf den Ausgang verwehren. Jeder Mensch darf das Heim verlassen. Aber es wird dennoch weiter reglementiert.

epd: In welcher Form?

Kempchen: In Nordrhein-Westfalen beispielsweise sind nur sechs Stunden Ausgang möglich. Am häufigsten sind Beschränkungen, die rechtlich nicht greifbar sind, zum Beispiel, wenn das Personal keine Zeit hat, Menschen anzuziehen und fertigzumachen, um sie im Rollstuhl an die Eingangstür zu bringen.

epd: Wehren sich die Betroffenen?

Kempchen: Es gibt Klagen, aber nicht viele, weil wir es hier mit Abhängigkeitsverhältnissen zu tun haben. Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, scheuen den Gang zum Gericht, und die Angehörigen fürchten Repressalien für ihre Pflegebedürftigen. Uns sind einzelne Eilverfahren bekannt, etwa um einen Besuch durchzusetzen. Es gab auch Klagen um den Zugang zum Zimmer. Aber es gibt nicht so viele Gerichtsentscheidungen, wie wir uns das wünschen würden. Denn solche Urteile gäben uns auch für unsere Beratungen mehr Sicherheit.

Der andere Punkt ist: Die Menschen arrangieren sich. Wir haben Lockerungen. Die Angehörigen können ihre Pflegebedürftigen in einer gewissen Regelmäßigkeit sehen. Es ist alles besser als die Zeit davor. Das ist das, was "die neue Normalität" genannt wird.

epd: Wie ist die rechtliche Lage der Angehörigen?

Kempchen: Für die Angehörigen gilt: Wenn sie die Großmutter mit zur Hochzeit des Enkels nehmen, dann gelten die Regeln, die das Bundesland für Familienfeiern erlassen hat. Und für den Heimbewohner gilt, dass er oder sie sich an die Regeln hält, an die sich auch alle anderen halten, also Abstand, Maske und Hygiene.

epd: Warum scheuen sich viele Angehörige, ihre Pflegebedürftigen mit auf einen Ausflug oder nach Hause zu nehmen?

Kempchen: Das Problem ist die Quarantäne. Am Anfang der Corona-Krise und aus der damaligen Panik heraus hieß es: Wer das Heim verlässt und zurückkommt, muss zwei Wochen lang in Quarantäne. Heute ist das in keinem Bundesland mehr eindeutig geregelt. Jetzt kann es zum Beispiel so sein, dass Bewohner, die von draußen zurückkommen, getestet werden und bis das Ergebnis da ist, überwiegend auf ihrem Zimmer bleiben müssen. Woanders heißt es, wer draußen war, muss zumindest in den Gemeinschaftsräumen einen Mund-und-Nasenschutz tragen.

epd: Dürfen denn Heimleitungen eine Isolierung anordnen?

Kempchen: Juristisch würde man sagen: Solange kein begründeter Verdacht besteht, darf man nicht einfach eine Quarantäne anordnen. Rechtlich gesehen müsste eine Heimleitung erst mal klären: Gab es überhaupt "unkontrollierte Sozialkontakte", wie man das jetzt nennt? Dann müsste sie sich ans Gesundheitsamt wenden, das wiederum über eine Quarantäne oder einen Test entscheidet, wie es etwa bei Reiserückkehrern der Fall ist. Aber so läuft das nicht. Wir haben hier einen Graubereich. Faktisch hemmt die Angst vor einer Quarantäne Angehörige und die Heimbewohner, ihre Rechte wahrzunehmen.

epd: Wie schätzen Sie die Situation der Einrichtungen ein?

Kempchen: Die meisten Landesverordnungen geben den Heimen und Trägern eine Verantwortung, mit der umzugehen sie nicht gelernt haben. Zum Teil arbeiten die Aufsichtsbehörden mit den Heimen gut zusammen und begleiten sie. Es gibt aber auch Regionen, wo sie die Einrichtungen alleinlassen. Deshalb habe ich auch Verständnis für die Einrichtungen, die ja Angst haben, dass das Virus ins Haus kommt.

epd: Womit rechnen Sie, wenn die Infektionszahlen weiter steigen?

Kempchen: Wir haben schon wieder ein paar Verschärfungen - auch zwei, drei Meldungen über eine zeitweilige Schließung von Heimen.

epd: Was kann man dann tun?

Kempchen: Ich würde sofort vor Gericht gehen. Es gibt keine Grundlage dafür, aufgrund allgemein steigender Corona-Zahlen eine Einrichtung zu schließen.

epd: Was könnte die Politik tun?

Kempchen: Beispielsweise könnte die Politik bestimmen, bei welchem Infektionsfaktor welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Wir fordern vor allem einheitliche Vorgaben. Außerdem fordern wir, dass die Verantwortlichkeiten klar geregelt werden: Wer entscheidet über Schließungen? Die große Angst, die bei allen Angehörigen und Heimbewohnern kursiert ist die, dass die alten Menschen keine Normalität mehr erleben werden, bis sie sterben. Das ist für viele unerträglich.



Mehr zum Thema

Besuche in Heimen: In jedem Bundesland andere Corona-Regeln

Besuche in Pflegeheimen werden von den Bundesländern im Rahmen ihrer Corona-Verordnungen geregelt. Diese sind in jedem Land anders. Darüber hinaus können Kommunen und Kreise andere oder weiterreichende Regelungen treffen. Seniorenschutzorganisationen fordern, dass sich die Länder auf einen einheitlichen Rahmenkatalog verständigen sollten.

» Hier weiterlesen