Syke (epd). Der einjährige Sonnenhut hat es Lotta angetan. Die Fünfjährige greift aus ihrem Rollstuhl mit beiden Händen in die gelb-braunen Blüten. Sie ist geistig und körperlich schwerbehindert, hat immer wieder schwere epileptische Anfälle. Wie ein Meer wogen die Sonnenhüte zu Hunderten vor dem Eingang des Kinder- und Jugendhospizes "Löwenherz" im Wind auf und ab. Drum herum gruppieren sich weiße, lila, rosa und blaue Felder von Schönaster, Lavendel, Kugeldistel und Katzenminze.
Krankenschwester Birgit Wrede spaziert mit Lotta die Wege im Garten des Hospizes in Syke bei Bremen entlang. Mutter Adriane besucht währenddessen mit der zweijährigen Schwester Ida einen nahen Tierpark. Juchzend knautscht Lotta die bauschigen braunen Sonnenhut-Dolden und reißt die gelben Blätter von den langen Stängeln. Alke Meyer lächelt dazu süß-sauer, aber lässt es geschehen. "Schließlich ist der Garten für die Gäste da", sagt die Staudengärtnerin und Gartentherapeutin.
Die 58-Jährige gestaltet und pflegt seit zehn Jahren den Garten im Kinderhospiz. "Meine Philosophie ist, einen naturnahen, nachhaltigen Garten zu schaffen, der die Menschen erfreut", sagt Meyer. Er soll die Gäste, die Kinder und auch die Mitarbeitenden zusammenführen. Hinter hohen Hecken, unter Schatten spendenden Bäumen oder rund um den Spielplatz laden Bänke zum Verweilen ein. Für ihre Arbeit hat Alke Meyer jüngst sogar einen Preis der Vereinten Nationen bekommen - im Wettbewerb "Soziale Natur - Natur für alle".
In allen 17 stationären Kinder- und Jugendhospizen in Deutschland spielen Gärten eine große Rolle, sagt Sabine Kraft, Geschäftsführerin des Bundesverbands Kinderhospiz. Familien können sich mit ihren schwersterkrankten Kindern in diesen spezialisierten Hospizen für bis zu vier Wochen im Jahr von der kraftraubenden Pflege zu Hause erholen.
Dafür ist ein Garten unverzichtbar. "Der Garten gehört zum Lebensraum von Kindern und Familien. Er ist ein Ort des Friedens und der Freude und trägt zur Gesundheit bei", sagt Kraft. In allen Gärten gibt es Spielgeräte, Blumenbeete und einen Erinnerungsbereich, manchmal zusätzlich Teiche, Hütten oder sogar einen Streichelzoo.
Familie Brink schiebt Tochter Lina (21) im Rollstuhl über die geschwungenen Wege im Löwenherz. In den Hochbeeten mit Kräutern und Duftpflanzen gibt es immer etwas zu entdecken. Vater Gerhard Brink pflückt ein pelzig weiß-grünes Blatt des Wollziest und streicht Lina damit über die Wange. Ihr Gesicht zeigt keine Regung. "Wir haben aber das Gefühl, dass sie noch viel mitbekommt", sagt Mutter Britta Brink.
Lina ist durch eine Epilepsie schwer hirngeschädigt. Ihre Eltern genießen es, zwei bis drei Mal im Jahr eine Auszeit zu nehmen - früher nebenan im Kinderhospiz, jetzt im Jugendhospiz. Schwestern, Pfleger und Therapeuten kümmern sich dann um Lina. "Wir setzen uns in einen der Strandkörbe und lesen. Dazu komme ich zu Hause fast nie", sagt die Mutter. Oder sie spazieren über die Wege und naschen von Himbeeren, Blaubeeren oder den kleinen Tomaten, die in großen Töpfen nah am Haus stehen.
Über den Garten, die Pflanzen und Tiere ins Gespräch kommen - auch das ist eine wichtige soziale Funktion eines Gartens, findet Gartentherapeutin Alke Meyer. Und wer sich praktisch einbringen will, darf Rasen mähen, Unkraut jäten oder beim Anlegen neuer Beete helfen.
Währenddessen düst Geschwisterkind Levin mit einem Kettcar über die Wege vorbei am riesigen Sandkasten mit Matschstelle, windschiefer Hütte und Wippe. Gleich daneben auf der großen Rasenfläche hüpft der vierjährige Ajub mit seiner Mutter Rehab auf dem Trampolin.
"Für uns ist der Garten ein wichtiger Teil der Arbeit im Kinderhospiz", sagt Leiterin Gaby Letzing. Deshalb finanziere der Verein über Spenden die Arbeit von Alke Meyer und einer Kollegin. Der Garten gebe Trost und sei Ausdruck dafür, dass Leben und Sterben zusammengehörten: "Es ist eine Wohltat für beladene Seelen, einfach nur im Garten zu sitzen, die vielen Blumen zu sehen und zu riechen und eine Weite in sich zu spüren, die einfach gut tut."
Gärten aktivierten alle Sinne des Menschen, sagt auch Expertin Bettina Ellerbrock, Geschäftsführerin der staatlich anerkannten Europäischen Gesundheitsakademie. Sich an Pflanzen zu erfreuen, könne dazu beitragen, Leiden zu lindern oder sogar zu heilen. Das werde zunehmend in der Altenhilfe, der Jugendhilfe und auch im Hospizwesen genutzt.
In den Kinder- und Jugendhospizen aber sind die Gärten nicht nur zum Spielen und Entspannen da: In eigens gestalteten Erinnerungsbereichen können Eltern, Geschwister, Angehörige, Freunde und Mitarbeiterinnen der gestorbenen Kinder gedenken. Im Löwenherz in Syke bemalen die Eltern Erinnerungs-Steine für einen Kiesgarten. Zwischen den Steinen wachsen Salbei und Katzenminze, auf denen sich an diesem sonnigen Tag zahlreiche Schmetterlinge niedergelassen haben.
"Unsere Erinnerungsgärten sind ganz bewusst offen gestaltet und von überall her zu sehen. Sie liegen nicht am Rand, sondern mittendrin", sagt Alke Meyer. Für Gaby Letzing ist der Erinnerungsgarten der Jugendlichen einer ihrer Lieblingsplätze im Löwenherz-Garten. "Die vielen Steine erzählen von unseren Gästen, die die letzte große Reise hinter den Horizont angetreten und Spuren hinterlassen haben."
Währenddessen streift Alke Meyer durch ihre Beete, schneidet Blumen und bindet sie zu einem üppigen bunten Strauß zusammen: "Eine Mutter hat morgen Geburtstag. Da stelle ich ihr den heute Abend schon auf ihr Zimmer."