Gütersloh, Berlin (epd). Jedes fünfte Kind in Deutschland erlebt Armut oder lebt mit seiner Familie an der Armutsgrenze. Laut einer aktuellen Analyse der Bertelsmann Stiftung sind das 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, wie die Stiftung am 22. Juli in Gütersloh erklärte. Fast jedes siebte Kind (13,8 Prozent) erhält demnach Leistungen der Grundsicherung. Die Corona-Krise verschärfe die Kinderarmut, warnten Experten der Stiftung und forderten eine armutsfeste Leistung für die Jüngsten. Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Parteien warfen der Regierung Versagen vor und erneuerten ihre Forderungen nach einer allgemeinen, existenzsichernden Kindergrundsicherung.
In der Corona-Krise verlören Eltern von benachteiligten Kindern häufig als erste ihren Job, etwa als Minijobber. Oder sie erhielten wegen ihrer niedrigen Löhne nur wenig Kurzarbeitergeld, erläuterten Experten der Bertelsmann Stiftung. Auch die Schließung von Schulen, Kitas oder Jugendzentren während des Corona-Lockdowns treffe die bedürftigsten Kinder und Jugendlichen härter als andere. 24 Prozent der auf Sozialleistungen angewiesenen Kinder hätten keinen internetfähigen PC im Haushalt, 13 Prozent keinen ruhigen Platz zum Lernen.
Der Studie zufolge gelten Kinder als arm, wenn ihre Eltern über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen oder Hartz-IV-Leistungen erhalten. Grundlage waren aktuelle Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Die Linke und die Grünen sprachen übereinstimmend von einem Armutszeugnis für die Bundesregierung und forderten eine Kindergrundsicherung, mindestens aber eine deutliche Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen. Der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Dietmar Bartsch, warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, in ihrer gesamten Amtszeit keine entscheidende Verbesserung herbeigeführt zu haben. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katja Dörner, erklärte, gut gemeinte Einmalzahlungen wie der Corona-Kinderbonus von 300 Euro könnten dies nicht auffangen.
Die SPD verwies demgegenüber auf das Erreichte. Eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums wies in Berlin den Vorwurf zurück, dass Kinderarmut „eine unbearbeitete Großbaustelle“ sei, wie es in der Bertelsmann-Analyse heißt. Die Regierung gehe mit vielen Maßnahmen gegen Kinderarmut vor. Dabei sei der erweiterte Zugang zum Kinderzuschlag für Geringverdiener von bis zu 185 Euro pro Monat zentral. Derzeit erhielten ihn 800.000 Familien, im Januar seien es noch 300.000 gewesen, sagte die Sprecherin. Das sei nicht in die Studie eingegangen.
Demgegenüber befürchtet das Deutsche Kinderhilfswerk, dass durch die Corona-Krise die Zahl der armen Kinder noch steigt. Geschäftsführer Holger Hofmann sagte, arme Familien hätten kein Geld für Nachhilfelehrer und könnten sich kostenpflichtige Lernplattformen nicht leisten: "Daher sollte dringend die Einrichtung eines Sonderfonds geprüft werden, über den Bildungsprogramme für benachteiligte Kinder finanziert werden können." Auch der Sozialverband VdK mahnte mehr Hilfen für den Unterricht an. Damit alle Kinder am digitalen Unterricht teilnehmen könnten, müssten ihnen kostenlos Geräte zur Verfügung gestellt werden, forderte VdK-Präsidentin Verena Bentele.
Alle Sozialverbände mahnen eine Kindergrundsicherung an. "Unsere Kinderarmut in Deutschland ist nicht naturgegeben, sondern Ergebnis politischer Unterlassungen", sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Diakonie-Sozialvorstand Maria Loheide erklärte, außerdem müsse in Ganztagsbetreuung, kostengünstige Freizeitangebote und kostenfreie Schulessen investiert werden.
Der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, der Kieler Sozialstadtrat Gerwin Stöcken (SPD), nannte die Ergebnisse der Bertelsmann-Studie "erschütternd". Er forderte im Gespräch mit dem eine unbürokratische Erhöhung der Hartz-IV-Sätze als Sofortmaßnahme. Die Politik müsse das Problem aber endlich richtig angehen. Konzepte gegen Familien- und Kinderarmut gebe es genug, sagte er.