sozial-Politik

Flüchtlinge

Dokumentation

"Sommer der Flucht" - Bilanz nach fünf Jahren



Zivilgesellschaftliche Organisationen ziehen in einer von Pro Asyl, der Diakonie Hessen und dem Initiativausschuss für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz initiierten Erklärung eine Bilanz der Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015. Darin steht viel Positives, aber es werden auch etliche Korrekturen der aktuellen Politik angemahnt. epd sozial dokumentiert das Papier im Wortlaut.

Menschen sind gekommen. Ohne dass wir sie gerufen hätten. Menschen sind gekommen, weil sie vor Bomben und Kugeln, vor Terror und politischer Verfolgung, vor Folter und Misshandlung fliehen mussten. Sie flohen aus den Kriegs- und Krisengebieten in Syrien, Afghanistan, dem Irak, Eritrea oder Somalia. Sie flohen, weil sie dort keine Perspektive hatten und die Türkei als Durchgangsland kein Staat ist, der dauerhaft Schutz gewährt.

Menschen sind gekommen mit der vagen und auf ihren Fluchtwegen oft hart geprüften Hoffnung, hier etwas Besseres zu finden. Menschen sind gekommen, weil andere EU-Staaten geltendes Recht brechen und keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Sie sind gekommen, weil Deutschland ein demokratischer Rechtsstaat ist, in dem die Menschenrechte und das EU-Recht geachtet werden, ein Staat, der seine Grenzen nicht rechtswidrig geschlossen hat.

Menschen sind gekommen. Und Menschen haben sie aufgenommen. Schon das allein ist eine Erfolgsgeschichte. Dieser lange Sommer der Flucht im Jahr 2015 traf auf eine lebendige, Humanität, Empathie und die Idee der Menschenrechte verwirklichende Zivilgesellschaft.

Aufnahme in vielerlei Hinsicht ein Erfolg

Und dann wurde aus der Aufnahme Geflüchteter sogar noch in vielen anderen Hinsichten ein Erfolg. Mit den Menschen kamen neue Nachbarinnen und Nachbarn, neue Freundinnen und Freunde in Kindertagesstätten, Schulen, Vereinen, Kommilitoninnen und Kommilitonen, Unterstützerinnen und Unterstützer im Ehrenamt, neue Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz. Mit den Schutzsuchenden sind Menschen nach Deutschland gekommen, die arbeiten wollen und können. Viele von ihnen sind jung und sie tragen schon jetzt dazu bei, der Überalterung der Bevölkerung entgegenzuwirken.

85 Prozent aller Geflüchteten haben mittlerweile an Sprachkursen teilgenommen. Ihre Integration in den Arbeitsmarkt geht schneller als gedacht. Anfang März 2020 hatte fast jede*r zweite Geflüchtete in Deutschland Arbeit.

Die Gesetzliche Krankenversicherung registriert einen doppelten Entlastungseffekt, weil Geflüchtete jünger sind als der Durchschnitt der Versicherten und weniger Leistungen in Anspruch nehmen als gleichaltrige Versicherte. Jedes Semester immatrikulieren sich mehrere Tausend Geflüchtete an deutschen Hochschulen und Universitäten. Allein im Wintersemester 2018/19 waren es 3.788, 18-mal so viele wie im Wintersemester 2015/16. Tendenz weiter steigend.

130.000 Kinder eingeschult

130.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche wurden zwischen Januar 2015 und März 2018 eingeschult. Und bei alledem wurde deutlich weniger ausgegeben als geplant. 2015 schätzten Experten des Instituts für Weltwirtschaft, dass die Integration der Flüchtlinge mindestens 20 Milliarden Euro jährlich kosten wird. Die Bundesregierung ging damals davon aus, dass auch das nicht ausreichen würde und erwog zusätzlich noch eine Benzinsteuer.

Fakt ist: Die tatsächlichen Ausgaben des Bundes für Flüchtlinge in Deutschland beliefen sich im Jahr 2019 auf 14,7 Milliarden Euro - inklusive von Kostenerstattungen an die Bundesländer in Höhe von 6,3 Mrd. Euro. Dabei sind die zusätzlichen Steuereinnahmen durch mitarbeitende Geflüchtete noch gar nicht eingerechnet.

Und die von der Bundesregierung gebildete Flüchtlingsrücklage in Höhe von mittlerweile 35 Milliarden Euro wurde bisher nicht angetastet.7 Das alles macht deutlich: Wir sind nicht nur - unabhängig von den Kosten - verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen, weil das individuelle Recht auf Asyl unbedingt gilt, wir können uns die Aufnahme Schutz suchender Menschen ökonomisch auch gut leisten. Und gesellschaftlich zahlt sie sich aus. Auch deshalb sagen wir: #offengeht.

Der Sommer der Flucht löste eine Welle der Solidarität aus. Während die Politik debattierte, machten sich Zehntausende in Deutschland buchstäblich über Nacht auf, um gravierende Leerstellen in der Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten zu füllen.

Selbstwirksames, kreatives Chaos

Es war über Wochen und Monate hinweg ein kreatives Chaos, in dem Bürgerinnen und Bürger sich als selbstwirksam erlebten, als Individuen, die gemeinsam mit anderen etwas bewirken und verändern konnten. Die Verwaltungen in vielen Kommunen und Gemeinden unterstützten tatkräftig. Neue Formen der Kooperation und Vernetzung entstanden, die lange getragen haben und unsere Arbeit noch immer prägen. Mut und Stärke, Improvisationsgeschick, die Notwendigkeit, Neues auszuprobieren, ohne den Ausgang zu kennen, Denken und Handeln ohne Geländer, Aufbrechen mit einer Vision im Kopf, ohne zu wissen, ob man ankommt, all das sind Kennzeichen einer Zeit, in der Vieles ging.

Erfahrungen und Strukturexperimente aus diesen aufgeregten und aufregenden Zeiten sind bis heute in Herzen und Köpfen präsent. Die Bewegung der Geflüchteten hat ein ganzes Land bewegt und viele am eigenen Leib erfahren lassen: #offengeht.

Aber an vielen Stellen hat die Politik sich gegen das neue zivilgesellschaftliche Engagement gewendet. Rechtliche Hürden wurden aufeinandergetürmt. Wohnsitzauflagen verhindern noch größere Erfolge bei der Integration. Die Angst vor vielen Familienangehörigen auf der Flucht und vor allem die Angst vor Rassist*innen und Rechtsextremen in den Parlamenten bestimmte große Teile der Gesetzgebung. Statt die Bereitschaft der Vielen, aktiv und kreativ an der Bewältigung neuer Herausforderungen mitzuarbeiten, positiv zu würdigen und für die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft zu nutzen, wird ihr Engagement an vielen Stellen behindert, zermürbt und ausgebremst.

Schutzsuchende werden von Unterstützer*innen fern- und immer länger in immer größer werdenden Lagern festgehalten. Die Zugänge zu Rechtsmitteln und unabhängiger Beratung werden erschwert, Haftgründe ausgeweitet, Abschiebungen forciert und brutalisiert. Zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete wird diskreditiert und kriminalisiert. Die finanziellen Ressourcen für eine funktionierende Aufnahmegesellschaft werden drastisch reduziert.

Mehr Geld für Infrastruktur nötig

Dabei sind Investitionen in die Infrastruktur dringend nötig, auch im Blick auf die erwünschte Arbeitsmarktzuwanderung. Es ist ein Irrtum, zu denken, dass man gegenüber Flüchtlingen die Grenzen schließt, Stimmung schürt und eine Gesetzesverschärfung nach der anderen auf den Weg bringt, und gleichzeitig Hochqualifizierte mit offenen Armen empfangen kann. Rassistische Haltungen fragen nicht danach, mit welchem Aufenthaltsstatus ein Mensch hier lebt. Sie treffen alle in unserem Land, die als fremd markiert werden.

Das verbal verbreitete Gift, die Verrohung der Sprache, die Missachtung von Grund- und Menschenrechten, Alltagsrassismus und rassistische Gewalt entziehen unserer Gesellschaft die Grundlagen. Wir treten deshalb nicht nur für einzelne Gruppen in der Gesellschaft ein, sondern für uns alle. Nur #offengeht.

#offengeht: Der Zugang zum Asylrecht muss an Europas Grenzen gewährleistet sein. Menschenrechtswidrige Push-Backs, direkte Abschiebungen ohne Prüfung eines Asylantrages – durch Griechenland oder andere EU-Mitgliedstaaten – müssen aufhören.

#offengeht: Viele Flüchtlingsunterkünfte in den Kommunen stehen zurzeit leer. Andere können kurzfristig reaktiviert werden. Es gibt hinreichend Ressourcen, Kapazitäten und Kompetenzen in Deutschland, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen und unserer internationalen Verantwortung für den Flüchtlingsschutz nachzukommen.

#offengeht: Wir können und wir sollten eine erhebliche Zahl von Geflüchteten aufnehmen, die heute in Elendslagern auf den griechischen Inseln und an anderen Orten der europäischen Außengrenze verzweifeln.

#offengeht: Die Situation in den Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen werden in absehbarer Zeit nicht besser werden, weder in Syrien noch im Irak noch in Afghanistan noch in Eritrea noch in Somalia noch in der Türkei. Darum sollte nicht auf Abschiebungen gesetzt werden, sondern auf Integration vom ersten Tag an.

#offengeht: Asylsuchende müssen so schnell wie möglich in die Kommunen verteilt werden, um ihre Unterstützung und Integration zu fördern.

#offengeht: Die Vielfaltsfähigkeit zentraler Institutionen und Einrichtungen muss gezielt gefördert werden, nicht nur im Blick auf neu ankommende Geflüchtete, sondern für alle in einer heterogener werdenden Migrationsgesellschaft.



Mehr zum Thema

Flüchtlinge: Jobverlust in der Krise gefährdet die Duldung

Das Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge berät seit Jahren Betriebe, die Geflüchtete beschäftigten oder ausbilden. Dann kam Corona. Marlene Thiele berichtet in ihrem Gastbeitrag von Erfahrungen der Firmen in Krisenzeiten, was der Verlust der Arbeitsstelle für Geflüchtete bedeutet und welche zukünftigen Herausforderungen auf die Integrationsarbeit warten.

» Hier weiterlesen