sozial-Politik

Corona-Krise

Interview

Experte: Notfallbetreuung darf nicht den falschen Kindern nutzen



Lorenz Bahr, Leiter des LVR-Landesjugendamtes Rheinland und Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, wirbt im epd-Gespräch dafür, bei der jetzt anstehenden vorsichtigen Öffnung der Kitas vor allem benachteiligte Kinder zu betreuen. Sie seien von der Krise am meisten bedroht und bräuchten qualifizierte Hilfe bei ihren nächsten Entwicklungsschritten, so der Experte.

Für Lorenz Bahr ist und bleibt es richtig, dass diejenigen Kinder von Eltern, die in kritischer Infrastruktur tätig sind, weiter betreut werden sollen. Auch in den kommenden Wochen und Monaten werde diese Aufgabe oberste Priorität behalten. Die spannende Frage sei aber, für welche Kinder zusätzlich ein Angebot der Frühen Bildung geschaffen werden kann. Und da hat der Fachmann eine klare Meinung: Benachteiligte Kinder müssten vorrangig aufgenommen werden. Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Herr Bahr, Baumärkte sind offen, viele Geschäfte ebenso wie bald auch die Friseure. Nur bei den Kitas tut sich die Politik schwer, wieder ein Stück weit zur Normalität zurückzukehren. Haben Sie dafür Verständnis?

Lorenz Bahr: Ja, weil auch wir glauben, dass es eigentlich für Lockerungen zu früh ist und mit der öffentlichen Diskussion darüber Hoffnungen geweckt werden, die am Ende nicht eingelöst werden können. Auch ist das Interesse, Lockerungen zu gewähren, stark an der Verfügbarkeit der Eltern als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern orientiert.

epd: Aber die sind ja auch die Leidtragenden...

Bahr: Das Alles ist verständlich. Aber wir dürfen die Bedürfnisse des Kindes nicht in Vergessenheit geraten lassen. Auch gilt es, die Schutzbedürfnisse der Erzieherinnen und Erzieher in den Blick zu nehmen, die wir für eine gute frühe Bildung brauchen. Genau dieser Einschätzung hat sich die Jugend- und Familienministerkonferenz jetzt mit ihrem Beschluss zu den Kitas zu Eigen gemacht.

epd: Die Eltern in systemrelevanten Berufen sind in Sachen Kita-Betreuung seit Beginn der Krise im Vorteil. Jetzt soll die Notbetreuung ausgeweitet werden, damit mehr Eltern wieder arbeiten können. Ist das vernünftig?

Bahr: Es ist und bleibt richtig, dass diejenigen Kinder von Eltern, die in kritischer Infrastruktur tätig sind, betreut werden sollen. Auch in den nächsten Wochen und Monaten wird die Betreuung dieser Kinder oberste Priorität behalten. Die spannende Frage ist aber, für welche Kinder zusätzlich ein Angebot der Frühen Bildung geschaffen werden kann.

epd: Welche Gruppen favorisieren Sie?

Bahr: Zunächst muss man klar sagen, dass Tageseinrichtungen erst einmal Bildungs- und zusätzlich Betreuungsangebote sind. Wer und wessen Interessen haben hier Priorität? Wir werden in absehbarer Zeit nicht wieder alle Kinder aufnehmen können. Wir müssen also eine Auswahl treffen, die auch den begrenzten Raumkapazitäten und auch den Verfügung stehenden Erzieherinnen und Erzieher gerecht wird. Deshalb fordere ich, die Kinder zuerst in den Blick zu nehmen, die es in dieser Zeit besonders hart trifft.

epd: Warum gerade diese Gruppe?

Bahr: Sie könnten zu den wirklichen Verlierern der Krise werden. Deshalb muss unser Blick zunächst auf diejenigen Mädchen und Jungen gerichtet sein, die in prekären Situationen groß werden, etwa in beengten Verhältnissenim häuslichen Umfeld oder in einer psychosozial belasteten Situation. Dem kommt der oben genannte Beschluss der Minister auch nach.

epd: Die Notbetreuung und ihr Ausbau sei richtig, sagen Sie. Doch davon profitierten die falschen Kinder. Können Sie das begründen?

Bahr: Grundsätzlich profitieren natürlich alle Kinder von einem frühkindlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot. Es gibt aber Kinder, die in der momentanen Situation ungleich mehr verlieren, als Kinder, deren Eltern über vielfältige persönliche und materielle Ressourcen verfügen. Auch ist es richtig, dass in einigen Bundesländern - Sachsen, Thüringen, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen - die Notbetreuung auch für diejenigen Kinder offen ist, deren Wohl nachweislich in Frage gestellt ist. Auch hier wünsche ich mir ein möglichst bundeseinheitliches Verfahren, allein, um mehr Akzeptanz zu erfahren.

epd: Was versprechen Sie sich von dieser Priorisierung?

Bahr: Jeder Tag, der in der frühkindlichen Bildung versäumt wurde, ist ein verlorener Tag. Das bedeutet, dass Chancen versäumt werden, Entwicklungsschritte zu begleiten. Mit der Forderung, mehr den Bedarf einzelner Kinder bei der Notbetreuung in den Blick zu nehmen, soll verhindert werden, dass besonders die Kinder fehlende Begleitung erleben, die es ohnehin durch ihren familiären und sozialen Hintergrund schwer haben. Ich meine, diejenigen sollen zuerst eine Chance auf Bildung erhalten, denen es daran im familiären Umfeld mangelt.

epd: Wie soll man diese Gruppe ausfindig machen ohne die Familien oder deren Kinder zu diskriminieren?

Bahr: Wer unter den gegebenen Umständen einen Betreuungsplatz in öffentlicher Verantwortung erhalten kann, muss auf der Bundesebene im Konsens vereinbart werden, in den Ländern konkretisiert und am Ende in der Kommune und im Sozialraum nach transparenten Kriterien entschieden und geregelt werden.

epd: Wie sollte das vor Ort aussehen?

Bahr: Es muss für die Kinder in möglichst kleinen und stabilen Gruppen passen, es muss in die vorhandenen Räume passen und vor allem muss es ohne Stigmatisierung in der Einrichtung und im Sozialraum passen. Das kann gelingen, wenn die Gruppen möglichst heterogen zusammengesetzt werden. Die schlechtere Alternative wäre, dass diejenigen einen Platz erhalten, die am lautesten schreien und über den besseren Rechtsanwalt verfügen, um ihre Interessen durchzusetzen.