Berlin (epd). Das Leid von geflüchteten Kindern und Jugendlichen auf den griechischen Inseln ist unvorstellbar - und das nicht erst seit gestern. Kinder und Jugendliche leben in Kälte und Regen in Behelfsunterkünften, sind obdachlos oder in völlig überfüllten Camps untergebracht. Ihnen droht Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch, sie haben kaum Zugang zu medizinischer Versorgung oder ausreichend Nahrung.
Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF), Equal Rights Beyond Borders und viele weitere Organisationen weisen seit Jahren auf deren dramatische Lage hin und forderten erst im Herbst 2019 in einem dringlichen Appell insbesondere unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen.
Neun Bundesländer, Dutzende Kommunen und Jugendhilfeträger haben sich seither zur Aufnahme bereiterklärt. Doch das Bundesinnenministerium blockiert. Dabei ist Platz genug. Jeden Monat werden rund 1.000 Plätze in betreuten Wohngruppen für geflüchtete junge Menschen frei. Allein in den letzten drei Monaten haben 3.383 junge Menschen, die zwischenzeitlich volljährig geworden sind, die Jugendhilfeeinrichtungen verlassen.
Während die Politik blockiert, müssen Jugendhilfeträger bundesweit qualifiziertes Personal entlassen und Wohngruppen schließen. Von Schulen über Patenschafts- und Vormundschaftsvereinen bis Freizeitangeboten wurden weitere Strukturen für geflüchtete Kinder und Jugendliche aufgebaut, die derzeit zurückgefahren werden.
Das Bundesinnenministerium kann den Bundesländern erlauben, geflüchtete Menschen aufgrund der humanitären Notsituation aufzunehmen. Die Bundesländer können dann gemäß § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ihre Bereitschaft zur Aufnahme erklären und eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Laut einem aktuellen Rechtsgutachten, das vom grünen EU-Abgeordneten Erik Marquardt in Auftrag gegeben wurde, darf das Bundesinnenministerium aufnahmebereiten Bundesländern die Zustimmung nicht verweigern, wenn sie "vulnerable Personen" wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die aufnahmebereiten Bundesländer sollten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.
Die Bundesregierung kann zudem ihr "Selbsteintrittsrecht aus humanitären Gründen" gemäß Dublin III-Verordnung ausüben und auch ohne die Bundesländer Asylsuchende aus Griechenland aufnehmen. Nach der Aufnahme würden die Asylverfahren dann in Deutschland stattfinden.
Nun hat der Koalitionsausschuss beschlossen, im Rahmen einer europäischen "Koalition der Willigen" einen "angemessenen Anteil" geflüchteter Minderjähriger aus Griechenland aufzunehmen. Der Wortlaut des Beschlusses bleibt in vielerlei Hinsicht unklar. Nach Einschätzungen aus politischen Kreisen sollen nicht etwa 1.000 bis 1.500 Personen nach Deutschland kommen, sondern 1.000 bis 1.500 Personen über verschiedenen EU-Staaten verteilt werden.
Ein mutloser und unwürdiger Beitrag unseres Landes angesichts des Elends auf den griechischen Inseln. Rund 40.000 Flüchtlinge, darunter viele Kinder und Jugendliche, kranke, alte und traumatisierte Menschen, leben unter menschenrechtswidrigen Bedingungen auf den Inseln. Die Aufnahme wird laut Koalitionsbeschluss zudem auf wenige Personengruppen beschränkt. Nur schwer kranke Kinder und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge unter 14 Jahren - "die meisten davon Mädchen" - sollen einreisen dürfen.
Wer darf nun also kommen? Erst mal noch niemand. Denn erst muss die "Koalition der Willigen" stehen und anschließend ein Aufnahmeverfahren etabliert werden. Und selbst dann wären kaum unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betroffen.
Nach letzten vorliegenden UN-Zahlen sind nur 7,5 Prozent der 4.962 Minderjährigen, die ohne ihre Eltern in Griechenland leben, unter 14 Jahren. Das wären 372 unbegleitete Kinder, die insgesamt auf alle aufnahmebereiten EU-Staaten verteilt werden. Der Mädchen-Anteil liegt zudem lediglich bei 6,6 Prozent. Wird auch dieses Kriterium angewendet, bleiben statistisch gesehen 25 Mädchen unter 14 Jahren übrig. Eine traurige Zahl, angesichts des Leids von rund 5.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Griechenland.
Nach Schätzungen von Equal Rights Beyond Borders, die unter anderem Minderjährige auf der griechischen Insel Chios unterstützen, haben zudem 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen ohnehin einen Rechtsanspruch in anderen EU-Staaten überstellt zu werden, weil sie dort Angehörige haben. Sie brauchen ein Europa, in dem ihr Recht auf Zusammenführung mit Angehörigen geachtet und nicht länger ausgehebelt wird.
Neben unbegleiteten Minderjährigen sollen wohl auch Familien mit schwer kranken Kinder kommen dürfen. Hier muss sichergestellt werden, dass es nicht zu Familientrennungen kommt. Der gesamte Familienverbund inklusive volljähriger Geschwister, Großeltern und Adoptivkindern muss aufgenommen werden. Auf den griechischen Inseln fehlt es an Medikamenten, medizinischem Personal und Gerät. Für schwer kranke Menschen dürfte es in vielen Fällen kaum möglich sein, eine Diagnose gestellt zu bekommen. Es bleibt ein großes Rätsel, wie der Nachweis einer schweren Erkrankung erbracht werden kann.
Die vielen Menschen, die zuletzt auf die Straße gegangen sind, die aufnahmebereiten Jugendhilfeträger, Kommunen, Abgeordneten und Bundesländer dürfen sich durch diesen Alibi-Beschluss der großen Koalition nicht täuschen lassen. Es muss weiterhin Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden. Dabei macht es Mut, dass so viele Menschen in Europa nicht zusehen wollen, wie aus Europa der Unmenschlichkeit wird. Das gibt uns und vielen anderen Menschen, die sich für geflüchtete Menschen einsetzen, Kraft für unsere Arbeit.
In den vergangenen Wochen und Monaten haben uns viele Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern erreicht, die Kinder und Jugendliche aufnehmen wollen und von der Politik bitter enttäuscht sind. Ihnen müssen wir im Moment leider sagen: Es ist rechtlich nicht möglich Minderjährige aus Griechenland aufzunehmen. Aber: Privatpersonen können Druck auf Bund, Länder und Kommunen ausüben, damit diese sich bereiterklären, geflüchtete Kinder und Jugendliche aufzunehmen. Sie können zum Beispiel ihren Bundestagsabgeordneten vor Ort schreiben und sich an der Kampagne #WirHabenPlatz beteiligen.