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Flüchtlinge

Regierung sucht "Koalition der Willigen" für Aufnahme von Kindern




Spielende Kinder im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos
epd-bild/Jörn Neumann
Die Bundesregierung will Kinder aus den überfüllten Flüchtlingslagern in Griechenland holen. Bedingung ist eine "Koalition der Willigen" mit anderen europäischen Staaten. Erste Zusagen von sieben Ländern gibt es. Wann und wie den Kindern konkret geholfen wird, ist aber offen.

Die Bundesregierung will Kinder aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln holen - wann, ist allerdings unklar. Der Koalitionsausschuss von CDU, SPD und CSU verständigte sich in der Nacht zum 9. März darauf, auf europäischer Ebene in einer "Koalition der Willigen" die Übernahme von Kindern aus Griechenland zu organisieren. "In diesem Rahmen steht Deutschland bereit, einen angemessenen Anteil zu übernehmen", heißt es im Beschluss. Wann diese Koalition stehen soll, blieb offen. Kirchen, Hilfsorganisationen und Experten drangen darauf, schnell zu handeln.

Sieben EU-Staaten haben sich laut EU-Innenkommissarin Ylva Johansson bereiterklärt, minderjährige Flüchtlinge aus griechischen Lagern aufzunehmen. Sie hätten zugesagt, insgesamt mindestens 1.600 unbegleitete Minderjährige und andere besonders Schutzbedürftige aus Griechenland zu übernehmen, sagte Johansson am 12. März bei einem Besuch in Athen.

Geholt werden sollen laut Bundesregierung Kinder, die wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder unbegleitet und jünger als 14 Jahre sind, heißt es im Beschluss weiter. Ob kranke Kinder mit Eltern geholt werden sollen, blieb ebenfalls noch offen. Eine Aufnahme im Familienverband sei aber "wahrscheinlich", sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums.

Erste Gespräche laufen

Nach seinen Angaben liefen bereits am 9. März auf verschiedenen Ebenen Gespräche über eine europäische Initiative. Ob es am 13. März beim Treffen der EU-Innenminister, vielleicht schon davor oder erst später einen konkreten Beschluss geben soll, konnte er noch nicht sagen.

Im Beschlusspapier der Koalition ist von 1.000 bis 1.500 Kindern die Rede. Die Bundesregierung hatte in der vergangenen Woche wiederholt betont, dass sie keinen Alleingang bei der Aufnahme wolle, sondern auf eine europäische Initiative setze.

EU-weit haben sich laut Europäischer Kommission mindestens fünf Länder zur Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger von den griechischen Inseln bereiterklärt. Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, es gebe "positive Antworten" zum Beispiel auch aus Frankreich, Portugal, Luxemburg und Finnland.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betonte aber auch erneut die Priorität für den EU-Grenzschutz. Ordnung und Begrenzung von Migration seien Voraussetzung für Humanität, erklärte Seehofer: "Zu allererst müssen wir jetzt Griechenland helfen."

Hilfsorganisationen forderten ein schnelles Handeln und eine Ausweitung der Hilfe auf andere Gruppen. Die Aufnahme sollte auch für vulnerable Familien von Minderjährigen gelten, erklärte die Gemeinschaft Sant'Egidio. Die Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln sei wirklich dramatisch und verschlimmere sich Tag für Tag.

Kirchen üben scharfe Kritik

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, und der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx bezeichneten die europäische Flüchtlingspolitik als erbärmlich. Marx sagte am 10. März: "Es geht nicht um eine unkontrollierte Grenzöffnung, sondern darum, die konkrete Not nicht aus den Augen zu verlieren."

Die Kirchenvertreter verwiesen darauf, dass die muslimisch geprägte Türkei 3,7 Millionen Menschen aufgenommen habe. Dagegen sei es unverständlich, dass sich das christliche Europa weigere, 5.000 Kinder aufzunehmen, hieß es weiter.

Der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, bezeichnete die Planungen der Bundesregierung als "eine wichtige humanitäre Geste". Allerdings müssten auch die unhaltbaren Zustände in Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln so schnell wie möglich abgestellt werden. In Griechenland leben Unicef zufolge etwa 40.000 geflüchtete und migrierte Kinder, von ihnen sind 5.300 ohne Eltern oder andere Verwandte. Er appellierte an alle beteiligten Regierungen, ihrer Verantwortung nachzukommen und dem Schutz von Kindern jederzeit Priorität einzuräumen.

Unicef: Weitere Schritte müssen folgen

Der Sprecher von Unicef Deutschland, Rudi Tarneden, sagte dem epd, über kooperierende Hilfsorganisationen sei seine Organisation an der griechischen Grenze im Dauereinsatz, um die Menschen zumindest notdürftig zu versorgen. Er sagte, dort hielten sich rund 16.000 Personen auf, die weit verstreut im Freien kampierten. 40 Prozent davon seinen Frauen und Kinder, so der Sprecher. "Dort gibt es keine strukturierten Hilfen. Alles ist improvisiert. Wir haben für Unicef mobile Teams im Einsatz, die etwa versuchen, Familien mit kleinen Kindern Hilfe, Kleidung, Essen und Wasser anzubieten."

Tarneden forderte eine rasche politische Lösung der dramatischen und vor allem für die Familien gefährlichen Situation. Es gehe darum, individuelles Leid zu lindern, deshalb bleibe Unicef vor Ort und versuche, im Rahmen der Möglichkeiten den Betroffenen Menschen zu helfen. Doch damit lasse sich diese chaotische Situation nicht lösen, so der Sprecher.

Die EU müsse dringend "Grundsätze für ein gemeinsames Handeln finden". Alle EU-Staaten müssten sich ihrer Verantwortung stellen und allen voran die Kinder und Jugendlichen schützen. Deutschland erkenne jetzt immerhin an, dass es ein massives humanitäres Problem gebe. Die jetzt zugesagte Aufnahme von Kindern und Jugendlichen sei deshalb richtig und wichtig, aber auch nicht mehr als ein Symbol: "Da muss künftig noch weit mehr geschehen", forderte Tarneden.

Solange sich die EU nicht einigen kann, wie sie die in Griechenland ankommenden Flüchtlinge auf ihre Mitgliedstaaten verteilt, "müssen pragmatische und flexible Lösungen gefunden werden", sagte Petra Bendel, die Vorsitzende des Sachverständigenrates für Integration und Migration. Deutschland sollte dabei vorangehen und dürfe nicht warten, bis andere Staaten Verantwortung übernehmen.

"Beschlüsse dürfen nur der Anfang sein"

Die Hilfsorganisation World Vision teilte mit, die Hilfe für unbegleitete Minderjährige sei ein Schritt in die richtige Richtung. Dabei dürfe es aber nicht bleiben. Auch die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Petra Bendel, sagte, der Beschluss des Koalitionsausschusses könne nur ein Anfang sein.

Die Diakonie befürwortete die Aufnahme von minderjährigen Geflüchteten. Zur Lage im Grenzgebiet zu Griechenland sagte die Direktorin des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Barbara Eschen: "Es ist kein sicherer Aufenthaltsort für Kinder. Vor allem, wenn sie unbegleitet auf der Flucht sind. Die Menschen verbringen die Nächte im Freien, haben weder Decken noch Isoliermatten. Die meisten sind mit kaum mehr gekommen, als sie am Leib tragen." Es fehle an Nahrung, Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen.

Drastische Worte fand der niedersächsische Diakonievorstand Hans-Joachim Lemke. Er warb dafür, im Umgang mit den gestrandeten Flüchtlingen das Gebot der Barmherzigkeit nicht unter den Tisch fallen zu lassen: "Es ist beschämend, dass Europa offensichtlich keine Gemeinschaft ist, deren gemeinsame Werte auch zum Handeln führen."

Ähnlich äußerte sich die Diakonie Sachsen. Diakoniechef Dietrich Bauer sagte: "Es kann nicht sein, dass es in diesem reichen Land nur noch so wenig Barmherzigkeit gibt, dass selbst über die Aufnahme von ein paar tausend frierenden und schwer kranken Kindern noch nächtelang verhandelt werden muss." Weiter auf eine europäische Lösung zu warten, dauere viel zu lange.

Corinna Buschow, Dirk Baas