sozial-Branche

Obdachlosigkeit

Vom Elternhaus auf die Straße




Eine ehemalige Obdachlose in Frankfurt am Main
epd-bild/Peter Jülich
37.000 junge Menschen haben laut Schätzungen kein Dach über dem Kopf. Viele schwänzen die Schule, nehmen Drogen. Der Wohnungsmangel verschärft ihre Lage, auch die Notunterkünfte sind überfüllt. "Off Road Kids" will helfen, bevor es zu spät ist.

Nervös kratzt Lara K. (Name geändert) die Reste ihres rosa Nagellacks ab. Immer wieder streicht sich die 18-Jährige aus dem Raum Limburg in Hessen mit ihren zierlichen Händen über die mit Narben übersäten Arme. Lange ist es noch nicht her, dass sie in Frankfurt Platte gemacht hat. So nennen es Obdachlose, wenn sie im Freien schlafen.

Jetzt sitzt die junge Frau in einem der Beratungsräume der Frankfurter Streetwork-Station von "Off Road Kids" - einer Hilfsorganisation für Straßenkinder- und Jugendliche. Hier stehen ein paar bunte Stühle, mehrere Computer, an der Wand hängen Plakate mit Informationen zur Schwangerschaftsverhütung, in einer Schale liegen Kondome zum Mitnehmen.

Aus der Psychiatrie abgehauen

Die 1993 gegründete Organisation arbeitet auch in Dortmund, Berlin, Köln und Hamburg mit Straßenkindern. Sie finanziert sich nach eigenen Angaben vor allem aus Spenden. Die Mitarbeiter erreichen die jungen Obdachlosen im Internet über die Onlineberatung "sofahopper.de" oder direkt vor Ort.

Lara K. hat harte Tage hinter sich. Ihr schwarzer Kajal ist verschmiert, manchmal hat sie Mühe, die Augen aufzuhalten. Vor wenigen Wochen ist die junge Hessin auf der Straße gelandet, nachdem sie aus der Psychiatrie abgehauen war, wie sie erzählt. Sie packte ihre Sachen, kaufte sich Alkohol und fuhr betrunken mit dem Zug nach Frankfurt. Ein oder zwei Wochen verbrachte sie dort unter freiem Himmel. Die meiste Zeit war sie am Hauptbahnhof oder auf der Einkaufsstraße Zeil, genau weiß sie es nicht mehr.

Mit etwa 14 Jahren hätten bei ihr Depressionen begonnen, erzählt sie. Ihr Vater habe sie und ihren Freund tyrannisiert. Der sei Deutscher - ein No-Go für das muslimische Oberhaupt der Familie, wie die Deutsch-Türkin erzählt. Mehrere Klinikaufenthalte hat die Jugendliche hinter sich, mit ihrer Pflegefamilie kam sie nicht zurecht.

Kaum auf Frankfurts Straßen angekommen, lernte sie ein Mädchen kennen, hing mit ihr ab, rauchte Crack. "Ich hab mein ganzes Geld für den Scheiß ausgegeben", sagt Lara K. und zupft sich an einem ihrer geweiteten Ohrlöcher. Nachts konnte sie nicht schlafen, blieb tagelang wach. Irgendwann hat eine Drogenhilfeeinrichtung im Bahnhofsviertel die Ausreißerin an Dvora Leguy von "Off Road Kids" vermittelt.

Amtliche Statistiken gibt es nicht

"Du warst ein bisschen durcheinander", erinnert sich die Leiterin der Streetwork-Station an das erste Treffen mit Lara K. zurück. Inzwischen wohnt die 18-Jährige wieder in der Limburger Gegend, bei einer Freundin.

37.000 wohnungslose Kinder und junge Erwachsene bis 27 gibt es laut Schätzungen in Deutschland. Etwa 7.000 von ihnen sind minderjährig - diese Zahlen hatte das Deutsche Jugendinstitut München 2017 nach einer bundesweiten Befragung von Fachkräften genannt. Meistens seien es familiäre Gründe, aus denen Jugendliche den eigenen vier Wänden den Rücken zukehrten, berichtet Carolin Hoch, die die Studie betreute.

Amtliche Statistiken über das Ausmaß der Wohnungs- und Obdachlosigkeit gibt es bisher nicht, wie kürzlich die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG) bemängelte. Die Bundesregierung arbeitet an einem Gesetz für eine solche Erhebung. Ab 2021 soll das Statistische Bundesamt bundesweit Zahlen wohnungsloser Menschen ermitteln.

"Off Road Kids" will Perspektiven bieten

Der massive Wohnungsmangel verschärfe die Lage junger Obdachloser, erklärte "Off Road Kids" in diesem Frühjahr mit Blick auf die eigene Jahresstatistik von 2018. Im vergangenen Jahr sei es gelungen, bundesweit 400 Jugendliche dauerhaft unterzubringen. Das seien allerdings 20 Prozent weniger als 2017, heißt es in dem Bericht. Es sei höchste Zeit, dass die Kommunen für mehr Wohnraum sorgten, fordert Vorstandssprecher Markus Seidel.

Auch die Notunterkünfte seien oft überfüllt, berichtet Dvora Leguy in Frankfurt. Es müsse eine Einrichtung nur für Kinder und Jugendliche geben, findet die junge Sozialarbeiterin. Mit einem Bett für ein paar Tage sei es aber nicht getan: Das Team von "Off Road Kids" möchte seinen Klienten langfristige Perspektiven aufzeigen, wie die 34-Jährige erklärt.

Ein Beispiel dafür sei das "Prejob"-Projekt, das kürzlich in Dortmund an den Start ging: Es soll die Jugendlichen zunächst bei einem Schulabschluss und später beim Start in eine Berufsausbildung unterstützten. Im ersten Schuljahr haben laut Stiftung bereits drei Schüler einen Haupt- oder Realschulabschluss erreicht.

Auch Lara K. schmiedet Zukunftspläne. Im September beginnt die gerade Volljährige mit einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme. Hier möchte sie ihren Hauptschulabschluss nachholen und später Sozialarbeiterin werden. "Ich bin ja noch jung", sagt sie und lacht leise.

Carina Dobra


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