Ausgabe 41/2017 - 13.10.2017
München, Berlin (epd). Ab dem 1. November ist es wieder soweit: Vor allem große Kommunen bieten dann für wohnsitzlose Menschen "Kälteschutzprogramme" an. Betroffenen wird in „Kälteschutzräumen“ die Möglichkeit geboten, die Nacht im Warmen zu verbringen. Doch Städte und Gemeinden sind grundsätzlich verpflichtet, Wohnsitzlose nicht nur nachts, sondern auch ganztägig in Notunterkünften unterzubringen, stellte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in München in einem aktuell veröffentlichten Beschluss vom 4. April 2017 klar.
Dieser Anspruch geht auf die Aufgabe der Kommunen zurück, die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten. Weil mit der Wohnsitzlosigkeit Leib und Leben der Betroffenen gefährdet sind und die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde verletzt wird, ist auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigt. Die Kommunen sind daher in der Pflicht, das Problem anzugehen.
Nach Angaben von Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, sind Hunderttausende in Deutschland von Wohnsitzlosigkeit betroffen - und es werden immer mehr. "Genaue Zahlen gibt es aber nicht, weil bislang der Staat keine Wohnungsnotfallstatistik erstellt hat", sagt Rosenke. Schätzungen gingen jedoch 2014 von 345.000 Wohnsitzlosen in Deutschland aus. Die Prognose für 2018 liegt bereits bei 536.000 Betroffenen.
Grund sei schlicht zu wenig bezahlbarer Wohnraum. Hier habe die Politik versagt. Bis neue Sozialwohnungen entstehen, brauche es Jahre. „Die Notunterbringung Wohnsitzloser ist aus der Not geboren“, sagt Rosenke.
In der Regel können - mit Ausnahme von arbeitsuchenden EU-Bürgern - Wohnsitzlose zwar Hartz-IV-Leistungen und damit auch die Übernahme der Kosten für eine angemessene Wohnung beanspruchen. "Es gibt aber nicht ausreichend Wohnungen. Auch kommt es immer wieder vor, dass Wohnsitzlose gar nicht wissen, wie man einen Arbeitslosengeld-II-Antrag stellt", sagt die Expertin.
Bevor Wohnsitzlose eine Notunterkunft erhalten können, ist ihnen aber erst einmal "Selbsthilfe" zuzumuten, entschied der VGH München am 30. Januar 2017. Danach muss dargelegt werden, dass der Wohnsitzlose keine eigenen Mittel für die Anmietung einer Wohnung hat, oder dass er woanders - beispielsweise bei Angehörigen - nicht unterkommen kann. Erst wenn klar ist, dass der Wohnsitzlose aus seiner prekären Lage nicht herauskommt, ist die Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft möglich.
Doch meist können Wohnungslose sowieso nicht auf Hilfe von Angehörigen oder Freunden vertrauen. „Viele sind wohnungslos, weil sie kein soziales Netz mehr haben,“ erklärt Rosenke.
Die Notunterkunft soll auch kein "Wohnen" ermöglichen. Die Notunterkunft dient vielmehr "der effektiven Gefahrenabwehr und damit der Verschaffung einer vorübergehenden Unterkunft", entschied das Verwaltungsgericht Stuttgart am 17. Juli 2017. Betroffene sollen lediglich vor den "Unbilden des Wetters" geschützt werden, sprich ein Dach über dem Kopf und ein Bett haben.
Die Praxis überholt jedoch immer wieder die rechtlichen Annahmen: "Es gibt Leute, die leben schon seit Jahrzehnten in einer Notunterkunft", weiß Rosenke. Von einer vorübergehenden Unterkunft könne da keine Rede sein.
Nach einer Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgericht (OVG) in Bautzen vom 30. Juli 2013 können sich Wohnsitzlose auch nicht aussuchen, in welche Unterkunft sie eingewiesen werden sollen. Mit der Unterbringung in eine spezielle Einrichtung werde ihnen nicht das Recht auf "selbstständige Lebensführung" genommen.
Allerdings darf eine Kommune nach einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 25. November 2015 einem Wohnsitzlosen nicht ein Zelt als Unterkunft anbieten. Ein Zelt sei kein menschenwürdiger Ersatz für eine Obdachlosenunterkunft, selbst wenn der Wohnsitzlose "umgangsschwierig" sei und in der Vergangenheit Probleme in Unterkünften bereitet habe.
Grundsätzlich ist aber die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft zulässig, entschied das Verwaltungsgericht Mainz am 18. September 2012. Selbst eine muslimische Familie könne danach aus religiösen Gründen keine abgeschlossene Wohnung verlangen.
Für Rosenke kann die Wohnsitzlosigkeit letztendlich nur auf eine Art gelöst werden: Es muss mehr bezahlbarer Wohnraum her. "Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Menschen zusehends verelenden", befürchtet sie.
Az.: 4 CE 17.615 (VGH München, ganztägige Unterbringung)
Az.: 4 CE 16.2575 (VGH München, Selbsthilfe)
Az.: 1 K 11415/17 (VG Stuttgart)
Az.: 3 B 380/13 (OVG Sachsen)
Az.: 1 L 1429/15 (VG Münster)
Az.: 1 L 1051/12.MZ (VG Mainz)