Ausgabe 31/2017 - 04.08.2017
Der Politikwissenschaftler Michael Koß sagte im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst, Aktionen wie der "Kandidatencheck" oder "Wahlprüfsteine" gehörten zum politischen Alltagsgeschäft. Die Sozialverbände wirkten ganz legitim an der Willensbildung mit. Und: Die Wahlkandidaten müssen es aushalten, "dass auf sie konträrer Druck ausgeübt wird". Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Kaum ein großer Sozialverband verzichtet zur Bundestagswahl auf eine eigene Kampagne, um auch Einfluss zu nehmen auf die Kandidaten der Parteien. Machen solche Initiativen überhaupt einen Sinn? Die Wahlprogramme der Parteien sind doch längst in Druck?
Michael Koß: Es gibt in der Verbandsarbeit grundsätzlich zwei Seiten: Das Innenleben, wo quasi die echte Arbeit gemacht wird, und dann die Schauseite. Was jetzt im Wahlkampf an Kampagnen passiert, bewegt sich vor allem auf dieser Schauseite. Man muss ja nicht nur die Arbeit machen, sondern man muss als Verband auch nachweisen, was man für Aktivitäten gestartet hat. Und genau diesem Nachweis dient etwa ein Faktencheck oder ein Kandidatencheck. Und man hofft natürlich darauf, auch irgendwie Einfluss auf die Politik zu nehmen, indem man gegebenenfalls eine implizite oder explizite Wahlempfehlung ausspricht. Das ist das normale Tagesgeschäft.
epd: Bewirken diese Initiativen tatsächlich etwas?
Koß: Ja, sie können sich real tatsächlich auswirken. Die Sozialverbände zählen zu den größten Organisationen in Deutschland, haben also viele Mitglieder. Und wenn öffentlich gesagt oder geschrieben würde, dass etwa CDU-Positionen zur Sozialpolitik nicht wählbar sind, würde daraus für die potenziellen Wähler schon etwas resultieren. Auch ohne, dass man, wie früher direkt von der Kanzel herab, direkt sagt, wer gewählt werden soll. Das ist zwar kein Lobbying im engeren Sinne, dient aber sehr wohl als politischer Hebel im weiteren Sinne.
epd: Sind die Aktionen richtig getimt?
Koß: Man muss wissen, dass im politischen Berlin aktuell inhaltlich kaum noch gearbeitet wird. Es sei denn, es passiert etwas Brandaktuelles. Alles steht längst im Zeichen des Wahlkampfes, so dass auch die echte Arbeit in den Parteien steht jetzt hinten ansteht.
epd: Ist es ein Problem, dass die Verbände auch Druck auf die Kandidaten der Parteien ausüben, um ihre Ziele zu erreichen?
Koß: Ich finde das überhaupt nicht ehrenrührig. Im Gegenteil. Wir leben im Pluralismus. Wir haben ja nicht nur die Parteien, sondern auch die Verbände, die an der politischen Willensbildung mitwirken sollen. Die Abgeordneten müssen es auf jeden Fall abkönnen, dass dieser konträre Druck auf sie ausgeübt wird.
epd: Wie bewerten Sie den realen Einfluss auf einen Abgeordneten oder Kandidaten?
Koß: Das hängt davon ab, wie nahe diese Person den Zielen eines Sozialverbandes steht. Es gibt ja vor allem bei den großen Volksparteien viele Abgeordnete, sie sich selbst in den sozialen Organisationen, Stiftungen oder Vereinen aktiv engagieren. Die stehen natürlich unter größerem Druck, wenn die eigene Partei bei der Wahl schlecht abschneidet. Fakt ist aber auch, dass jetzt in Wahlkampfzeiten kein Verband mehr direkten Einfluss auf Programme nehmen kann. Wenn jetzt spezielle Forderungen erhoben werden, kann ja etwa die SPD nicht mehr ihr Wahlprogramm ändern.
epd: Liegt es vielleicht auch an der Fülle der ihrer Forderungen, dass die sozialen Interessengruppen nur bedingt Gehör finden?
Koß: Ich habe die Vermutung, dass die Verbände grundsätzlich selten richtig schlagkräftig auftreten. Das kommt daher, dass sie ein sehr breites Spektrum an Forderungen abdecken müssen. Interessen, die sich auf eine kleine hoch spezialisierte Gruppe beschränken, sind dagegen sehr, sehr wirkmächtig. Bestes Beispiel dafür ist der Bauernverband. Der bringt immer Power auf die Straße. Ich kann mich täuschen, aber dagegen ist der Einfluss der Sozialverbände im Wahlkampf doch überschaubar.
epd: Ließen sich die Ziele von Diakonie, Caritas, VdK und Co. nicht besser erreichen, wenn sie gemeinsam eine Kampagne starten?
Koß: Das mag sein, aber es gibt sicher auch viele allzu menschliche Gründe, warum das nicht klappt, etwa beim Beharren auf Eigenständigkeit oder das Festhalten an einem einflussreichen Vorstandsposten. Und die Organisationen haben ja auch eine Art Arbeitsteilung, mit der sie ihre Klienten bedienen. Selbst wenn es einen einzigen riesigen Verband gäbe, der nur mit einer Stimme spricht, wäre dessen Interesse zu diffus, um in Normalzeiten wahnsinnig einflussreich zu sein.