sozial-Politik

Jugendhilfe

Interview

"Wichtiger Etappenschritt der kulturellen Öffnung"




Cornelia Rundt
epd-bild/Tom Figiel
Niedersachsen hat zum ersten Mal einen türkischen Verein als Träger der Jugendhilfe anerkannt. Sozialministerin Cornelia Rundt (SPD) sieht das Land auf dem richtigen Weg der interkulturellen Öffnung. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) bezweifelt sie den Sinn der Gründung eines muslimischen Wohlfahrtsverbandes.

Für die Ministerin ist die Anerkennung der "Föderation der türkischen Elternvereine in Niedersachsen" ein "hervorragendes Beispiel für die gesellschaftliche Öffnung einer migrantischen Organisation auf der einen und für die interkulturelle Öffnung eines Regelsystems auf der anderen Seite". So gelinge Integration und eine volle gesellschaftliche Teilhabe werde ermöglicht. Dazu bedürfe es auch keines muslimischen Wohlfahrtverbandes, vorausgesetzt, "die bestehenden Verbände machen deutlich, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft bei ihnen willkommen sind". Die Fragen an die Ministerin stellte Dirk Baas.

epd sozial: Frau Ministerin Rundt, die "Föderation der türkischen Elternvereine in Niedersachsen" ist als erste landesweit tätige Migrantenorganisation als Träger der Jugendhilfe anerkannt worden. Wie viele Jahre hat das gedauert?

Cornelia Rundt: Das Aufnahmeverfahren dauerte rund zwei Jahre. Es hat mich gefreut, als ich das entsprechende Dokument übergeben konnte.

epd: Der Verein war kein unbekannter...

Rundt: Das stimmt. Die Föderation der türkischen Elternvereine in Niedersachsen ist seit Oktober 2016 Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Über diese Mitgliedschaft erlangte der verein nun die Anerkennung als freier Träger der Jugendhilfe.

epd: Beide Seiten, also die migrantische Organisation, aber auch das staatliche System der Kinder- und Jugendhilfe, müssen sich öffnen. Sind hier besonders dicke Bretter zu bohren?

Rundt: Unsere soziale Infrastruktur muss weiter und intensiver interkulturell geöffnet werden. Das ist ein fortlaufender Prozess. Die Anerkennung von FöTEV als freier Träger der Jugendhilfe ist als wichtiger Etappenschritt in der kulturellen Öffnung zu sehen. Ich wünsche mir, dass dieser Prozess in allen migrantischen Organisationen und Regelsystemen weiter vorangetrieben wird.

epd: Noch ist es ein Novum, mit einem muslimischen Verein zu kooperieren. Was erwarten Sie sich davon mit Blick auf die Integration von Muslimen und deren Ankommen in der deutschen Gesellschaft?

Rundt: Zuerst eine Anmerkung: FöTEV ist ein landesweiter Dachverband von migrantischen Elternvereinen. Diese Vereine engagieren sich im Bereich Erziehung und Bildung. FöTEV ist überparteilich, nicht religiös, an keine Ethnie gebunden und setzt sich landesweit für die Interessen der Familien mit Zuwanderungsgeschichte ein. Daher kann FöTEV nicht mit einem muslimischen Verein gleichgesetzt werden. Er definiert sich auch nicht als islamischer Verein. Mein Ministerium kooperiert konstruktiv und vertrauensvoll seit der Vereinsgründung im Jahre 2012 mit FöTEV als einem weiteren wichtigen Akteur im Bereich Migration und Teilhabe.

epd: Noch ist er aber in einer Sonderrolle.

Rundt: Ja, aber es ist es für die Landesregierung nichts Außergewöhnliches, mit einem muslimischen Verein zu kooperieren. Wir arbeiten etwa im Bereich der Salafismusprävention mit den Verbänden DITIB und Schura zusammen. Unsere Kooperation mit islamischen Vereinen beziehungsweise Verbänden reicht weit in die 2000er Jahre zurück. Der intensive Dialog ist für mich eine zentrale Voraussetzung für gelingende Integration.

epd: Stehen weitere Anerkennungen bevor, womöglich auch in anderen Feldern der sozialen Arbeit?

Rundt: Mir sind derzeit keine weiteren Anerkennungsverfahren bekannt. Perspektivisch wird es aber natürlich dazu kommen.

epd: Ist Niedersachsen hier bundesweiter Vorreiter oder haben Sie Kenntnis von bereits erfolgten Anerkennungen in anderen Bundesländern?

Rundt: Wir haben hier Neuland beschritten, und mit einer Politik, die Muslime unter Generalverdacht stellt, Schluss gemacht.

epd: Wir brauchen mehr Pluralität in der Jugendhilfe. Ist die jetzige Anerkennung mehr als ein erster Schritt?

Rundt: Das ist ein hervorragendes Beispiel für die gesellschaftliche Öffnung einer migrantischen Organisation auf der einen und für die interkulturelle Öffnung eines Regelsystems auf der anderen Seite. So gelingt Integration und eine volle gesellschaftliche Teilhabe wird ermöglicht.

epd: Was macht FöTEV im Vergleich zu anderen Vereinen anerkennungswürdig?

Rundt: FöTEV arbeitet in meinen Augen vorbildlich, das habe ich bereits beschrieben. Und die formal korrekte Antwort lautet: Die rechtlichen Voraussetzungen zur Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe sind in § 75 SGB VIII aufgeführt, FöTEV erfüllt diese Voraussetzungen.

epd: Dass es noch kaum anerkannte Migrantenorganisationen auf dem breiten Feld der sozialen Arbeit gibt, muss Gründe haben. Welche fallen Ihnen da ein?

Rundt: Da irren Sie. Es gibt längst anerkannte Migrantenorganisationen in der sozialen Arbeit. Allein für Hannover fallen mir zahlreiche Vereine ein, wie zum Beispiel Kargah e.V., Suana e.V., Arkadas e.V. oder das Ethno-Medizinische Zentrum e.V.. Bekannt sind aber auch viele von Migranten gegründete und geleitete Organisationen in anderen Bereichen etwa in der Alten- und Behindertenhilfe, Betreuungsvereine oder Frauenorganisationen. Aber natürlich ist es weiterhin unsere Aufgabe, uns auf diesem Feld gedanklich zu öffnen und auch neue Formen der sozialen Arbeit zu ermöglichen. Dieser Prozess ist im Gange.

epd: Viele Türken in Deutschland würden gerne einen eigenen Wohlfahrtsverband gründen. Wie bewerten Sie diese Pläne? Oder wäre es nicht sinnvoller, zuerst bundesweit agierende fachliche Organisationen, etwa für die Jugendhilfe, zu schaffen?

Rundt: Mir sind derartige Pläne nicht bekannt, ich kann sie daher auch nicht bewerten. Auf jeden Fall müssen aber die bestehenden Wohlfahrtsverbände deutlich machen, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft bei ihnen willkommen sind.

epd: Und ein eigener Dachverband?

Rundt: Die Gründung eines eigenen muslimischen Wohlfahrtsverbands ist grundsätzlich möglich, wenn gewünscht, jedoch nicht notwendig, weil auch bestehende Wohlfahrtsverbände satzungsgemäß weltanschaulich neutral aufgestellt sind und die Arbeit von migrantischen Organisationen bereits jetzt inhaltlich als auch finanziell unterstützen. Der Zugang zu Ressourcen wie Beratungskompetenz und Finanzen ist also bereits gegeben.

epd: Blicken wir in die Zukunft: Wird es in 20 Jahren einen türkischen zentralen Wohlfahrtsverband geben?

Rundt: Diese Frage kann ich nicht beantworten. Und ich sehe aktuell auch keinen Grund dafür. Aus der Anerkennung eines Elternvereins als Träger der freien Jugendhilfe lassen sich jedenfalls keine Schlussfolgerungen ziehen bezüglich der Neugründung von Wohlfahrtsverbänden. Zuerst muss ein Wohlfahrtsverband die Frage beantworten, wozu er überhaupt gebraucht wird und mit wem er helfen will. Daraus ergeben sich die weiteren Schritte.

epd: Gibt es andere Einwände?

Rundt: Der Aufbau neuer beziehungsweise paralleler Strukturen, auch wenn diese dem Bedarf an interkulturellen Besonderheiten gerecht werden sollen, ist aus migrationspolitischer Sicht problematisch. Die bestehenden Systeme haben ihre Angebote für Migrantinnen und Migranten zu öffnen. Hierbei wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Migrantinnen und Migranten eine äußerst heterogene Gruppe darstellen. Spezialisierungen etwa "für Muslime" befürworte ich nicht. Auch für die christlichen Verbandsfamilien sollte eine interkulturelle Öffnung ihres Leistungsangebotes selbstverständlich sein.

epd: Der Evangelische Pressedienst (epd) hat sich auch um ein Interview mit FöTEV bemüht. Nach einer ersten Zusage kam dann eine Absage, wegen des Inhalts der Fragen. Ist das womöglich ein Indiz, dass der Verein seinen Weg der Öffnung noch nicht bis zu Ende gegangen ist?

Rundt: Ich beteilige mich grundsätzlich nicht an Spekulationen über das Zustandekommen von Presseterminen Dritter, rate zu diskriminierungsfreiem Umgang miteinander und zu einem aufeinander Zugehen.


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