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Heftige Debatte über de Maizières Thesen zur Leitkultur




Weibliche Verhüllung in der Ausstellung "Cherchez la femme" in Berlin.
epd-bild / Christian Ditsch
Bundesweit wird diskutiert, ob Bundesinnenminister de Maizières Vorschläge, wie eine deutsche Leitkultur zu definieren ist, ein brauchbarer Ansatz ist. Die Kritiker sind klar in der Überzahl, doch es gibt auch Stimmen, die den CDU-Politiker für seine Thesen loben. Doch was soll das sein, das uns im Innersten zusammenhält und was uns von anderen unterscheidet?

Die zehn Thesen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) für eine deutsche Leitkultur werden in Politik, Kirchen und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Der Philosoph Jürgen Habermas widersprach dem CDU-Politiker. Er hält eine solche Leitkultur für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Zustimmung erhielt de Maizière dagegen vom Soziologen Ruud Koopmans. Kritik am Vorstoß des Ministers äußerten dagegen auch SPD, Grüne und Linke.

Eine liberale Auslegung der Verfassung verlange "die Differenzierung der im Lande tradierten Mehrheitskultur von einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur", schrieb Habermas in einem Gastbeitrag für die "Rheinische Post". Deren Kern sei die Verfassung selbst. Die Zivilgesellschaft müsse von eingewanderten Staatsbürgern jedoch erwarten, dass sie sich in die politische Kultur einleben, auch wenn sich das rechtlich nicht erzwingen lasse.

"Jedes Land der Erde braucht eine Leitkultur"

Der niederländische Wissenschaftler Koopmans hält die von de Maizière angestoßene Leitkultur-Debatte für notwendig. "Nicht nur Deutschland, jedes Land der Erde braucht eine Leitkultur, und die stabilen Staaten haben auch alle eine nationale Kultur", sagte Koopmans. Für den in Berlin lehrenden Integrationsforscher ist "etwas ganz spezifisch Deutsches der Umgang mit der Vergangenheit. Das historische Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, das ist deutsche Leitkultur."

De Maizière hatte in der "Bild am Sonntag" zehn Thesen zu einer deutschen Leitkultur veröffentlicht. Darin schreibt er: "Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet." Der Minister hob darin unter anderem soziale Gewohnheiten sowie die Bedeutung von Bildung, Kultur und Religion hervor.

"Leitkultur ist Freiheit und ein gutes Miteinander"

Kritik an den Leitkultur-Thesen kam aus der SPD. Kanzlerkandidat Martin Schulz sagte: "Die deutsche Leitkultur ist Freiheit, Gerechtigkeit, und ein gutes Miteinander, so wie es im Grundgesetz steht." Der Minister habe eine "Scheindebatte" angestoßen. Die Linkenpolitikerin Ulla Jelpke warf de Maizière vor, Millionen Zuwanderern mit eigener kultureller und geschichtlicher Erfahrung vor den Kopf zu stoßen.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), sprach von "hilflosen Benimmregeln" des Innenministers. "Es gibt keine faktisch einheitliche Kultur, die uns alle leiten würde", sagte Özoguz: "Wer eine künstliche Leitkultur von oben definieren oder gar verordnen will, muss grandios scheitern."

Der evangelisch-reformierte Kirchenpräsident Martin Heimbucher sprach sich für eine "europäische Kultur des Miteinanders" aus. Die vom Bundesinnenminister ausgelöste Diskussion um eine deutsche Leitkultur greife zu kurz, sagte Heimbucher dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zwar gebe bei den zehn Thesen des Ministers interessante Ansätze, doch störe ihn die binnen-deutsche Ausrichtung.

Minister will Begriff "politisch besetzen"

Seiner Ansicht nach habe de Maizière versucht, den Begriff "Leitkultur" politisch zu besetzen, bevor die Partei AfD ihn für den Wahlkampf benutzen könne, sagte der Theologe. Doch sei der Begriff unglücklich, weil er als Anspruch auf eine überlegene und führende Kultur missverstanden werden könne.

"Entscheidend für eine Kultur des Miteinanders ist die Frage, wie wir mit den vom Mainstream abweichenden Minderheiten umgehen", sagte Heimbucher. In Deutschland dürfe jeder Mensch seine Meinung offen sagen, ohne dabei um Leib und Leben fürchten zu müssen. "Dafür lohnt es sich zu kämpfen."

Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, sagte dem epd, die vom Minister benutzte Schärfe und Polarisierung sei nicht hilfreich für die Debatte. Gerade der Griff zum Wort "Leitkultur" sei außerdem wenig geeignet, eine offene Debatte zu eröffnen. Ähnliche Kritik kam vom Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann. "Wer dieses Wort benutzt, zerdeppert und zerstört alles, was er danach sagt", sagte er dem Internetportal evangelisch.de.


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