Ausgabe 10/2017 - 10.03.2017
Flensburg (epd). Inklusion - das ist nicht der einfache Weg, weder für Kostenträger und Landesbehörden, noch für die Unternehmenssteuerung und schon gar nicht für die Mitarbeitenden. Wer Inklusion ernst nimmt, muss sich und die anderen immer wieder neu erfahren, muss ausprobieren. Und auszuprobieren bedeutet, dass Grenzen verschwinden könnten. Das lässt Unsicherheiten wachsen. So produziert die Forderung nach Inklusion Unsicherheiten und Ängste.
Mit Blick auf die notwendige und längst überfällige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist es nicht opportun, etwas gegen Inklusion zu sagen. Dennoch höre ich mittlerweile an zu vielen Stellen, die Inklusion sei gescheitert.
Im Gegensatz zur Integration sieht Inklusion keine Vorhaltung von besonderen Institutionen wie Sonderkindergärten, Sonderschulen oder Förderzentren neben den Regeleinrichtungen vor. Das bisherige Regelsystem soll sich vielmehr so verändern, dass jeder aufgenommen werden kann. Das bedeutet einen Systemwechsel dahingehend, dass Menschen mit besonderen Bedarfen auch überall dabei sein können. Sie werden nicht mehr separiert.
Ausgehend von der unterzeichneten UN-Charta 2009 ist Inklusion in der Bundesrepublik keine Frage mehr, sie ist vorgegeben. Das Ideal sieht in Inklusion die Gleichberechtigung. Doch gleiche Chancen zu geben, wird in diesem Zusammenhang häufig missverstanden. Ein schwer traumatisierte Kind, das körperlich behinderte Kind, ein besonders verhaltensoriginelles Kind, sie alle werden nicht durch Inklusion geheilt, körperlich gesund oder automatisch nicht mehr auffällig. Sie sind natürlich darauf angewiesen, dass wir ihrem individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen - aber außerdem auch ihrem Recht auf Gleichberechtigung.
An vielen Stellen haben wir versäumt die Beteiligten auf den Weg zum Paradigmenwechsel mitzunehmen, wir haben versäumt, den Begriff Inklusion einheitlich zu klären. Wir haben unter dem Druck "jetzt sind wir inklusiv" versäumt, die bestehenden Systeme an veränderte Voraussetzungen anzupassen. Wir können die notwendigen Ressourcen wie etwa Räume, Fachkräfte und Hilfsmittel nicht einfach übernehmen. Uns fehlt es an personeller wie sächlicher Ausstattung und viele in Bildung und Betreuung Tätige haben sich frustriert von der Idee der Inklusion abgewendet.
Weitere Stolpersteine sind die unterschiedlichen, gesetzlichen Grundlagen für Bildungs- und Betreuungsangebote. Kommunen und Träger gehen mit unterschiedlichen Finanzierungsmodellen aus unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben um. Im Regelbereich richtet sich unsere Bezahlung nach dem SGB VIII. Für die Integrationshilfe gibt SGB XII den Rahmen vor. Hier werden Kinder mit besonderen Förderbedarfen bereits an der Basis "besondert". Wie können wir nun Modelle schaffen, in denen diese Besonderung nicht weiter in den Alltag getragen wird? Als kreativer Träger probieren wir mit unseren Kooperationspartnern neue Wege aus.
Wir setzen seit sechs Jahren mit Erfolg auf Modellklassen. Es gibt 28 von ihnen, seit 2016 sogar in der Sekundarstufe 1. Die involvierten Lehrkräfte und Schulleitungen geben ausschließlich positive Rückmeldungen. Die Fachkräfte auch. Die Maßnahme ist unter Umständen sogar bedeutend preiswerter, wenn wir nicht die Eingliederungshilfe und die Sonderpädagogik des Schulsystems differenziert bewerten wollen.
Ein zweites Beispiel ist das Flensburger Modell für den landesweiten Modellversuch der inklusiven Kita. Auch hier begegnen sich die beiden Sozialgesetzbücher, aus denen sich die Vergütung für den Träger einer Kita ableitet. Dennoch: Wir nehmen jedes Kind in unsere Kita auf, egal, ob verhaltensoriginell, ob mit Behinderung mit besonderem Bedarf, ob überbegabt oder auch ohne Status, ein sogenanntes "Regelkind".
Bei uns arbeiten gewöhnliche Pädagoginnen und Pädagogen, auch Heil- und Sonderpädagogen. Sie betreuen Lerngruppen mit jeweils 15 Kindern, deren Zusammensetzung unsere Mitarbeitenden in der Kita jeden Tag neu situativ anpassen können. Bedarf es einer Verkleinerung der einen Gruppe, können andere Gruppen vergrößert werden. Das ist so in einer Regelkita oder einer Sonderpädagogischen Kita aufgrund der Betriebsgenehmigungen durch die Heimaufsicht nicht vorgesehen. Auch hier sind wieder die zusätzlichen und besonders qualifizierten Pädagogen für alle Kinder da.
Inklusion betrifft alle Menschen, egal, was sie brauchen und welche Bedarfe sie an Bildungseinrichtungen stellen. Ich provoziere gerne mit der Aussage "Inklusion kann keine Grenzen kennen"! Wenn inklusives Handeln aus sächlichen Gründen beginnt, Einzelne zu exkludieren, ist sie das Gegenteil. Was brauchen wir, wenn wir inklusiv werden wollen? Die Gleichbehandlung aller Menschen erfordert eine Veränderung unseres Denkens. Sie bedeutet einen Struktur- sowie Kulturwandel in allen gesellschaftlichen Bereichen. Besonders in unseren Bildungseinrichtungen, denn sie sind die Keime für unsere zukünftige Gesellschaft.
Für uns bei Adelby 1 bedeutet Inklusion, alle gleichberechtigt zu behandeln. Inklusion geht nicht einfach mit mehr Personal. Keine Einrichtung wird durch räumliche Umbauten inklusiver. Inklusion ist eine Haltungsfrage, eine Auseinandersetzung mit unseren Werten. Das erleben wir jüngst im Inklusionsprozess unseres Unternehmens. Es geht dabei auch um lebenslanges Lernen und das lernende Unternehmen, um den Mut zur Offenheit. Als Träger mit sonderpädagogischer Historie und sehr hoher Fachlichkeit sowie intensiv inklusiver Erfahrung mussten wir auf unserem Weg einige unschöne Erlebnisse wegstecken und auch mal eine Schleife drehen. Wir nehmen den Prozess in Richtung Inklusion sehr ernst und das ist gut so.
Als Träger müssen wir bereit sein, ein Stück Zeit - ich spreche hier von kostbaren Personalstunden - einzubringen. Ans Ziel kommen wir nur gemeinsam: Einen Teil des Aufwandes müssen auch wir Träger leisten, wenn wir authentisch weiter zur Inklusion stehen wollen. Der Kostenträger sollte ganz bestimmt auch Mittel bereithalten. Aber warum auch nicht? Inklusion rechnet sich für Kommunen. In Flensburg haben wir mit der Stadtverwaltung für vier Einrichtungen eine Basisvergütung konstruiert. In ihr sind alle Kinder gleichgestellt. Auf den ersten Blick werden die Förderkinder anfangs - im Verhältnis zu vorher - schlechter gestellt. Doch Inklusion bedeutet folgerichtig: "Keine Besonderung und keine Bevorteilung - für alle die gleichen Rahmenbedingungen".
In einem zweiten Schritt werden alle Kinder individuell betrachtet und Bedarfe werden, insofern vorhanden, in vier Stufen bewertet. Diese Einstufung erfolgt durch die gemeinsame Begutachtung von zum Beispiel jugendärztlichem Dienst und Pädagogen in der Einrichtung, dicht dran am tatsächlichen Bedarf. Die Stufen lösen unterschiedliche und zusätzliche Personalressourcen aus. Aber Vorsicht, auch hier gilt: keine Besonderung! Unsere Heilpädagogen sind nicht exklusiv für ein Förderkind zuständig, sondern für die Gruppe und die Situation der Gruppe.
Ein weiterer Durchbruch ist es, dass wir Lerngruppen variabel gestalten können. Wir dürfen situativ gestalten. Das ist im Zusammenspiel mit der Genehmigungsbehörde (Heimaufsicht) nicht immer einfach. Wir hatten zwischendurch starke Frustrationsphasen. Doch als ich in Aussicht stellte, "Was soll’s, wir gehen zurück", waren sich alle Pädagogen einig: "Alles andere, nur nicht das." Die Entbehrungen und Unsicherheiten, die vielen zusätzlichen Besprechungen, die bis heute nach 2 Jahren anhalten, wiegen doch nicht so schwer, wie der Zugewinn durch das wirklich konsequente inklusive Leben.
In der Schule sind unsere Modellklassen ein Erfolg. Der angrenzende Kreis Schleswig-Flensburg möchte das Flensburger Konzept gerne übertragen. Aber wir legen auch großen Wert auf Qualität in der Schulbegleitung. Fachberatung, pädagogische Ausbildung, Fortbildungen, feste Anstellungsverhältnisse, Verlässlichkeit der Bezugsperson sind hier nur einige wenige unserer Qualitätskriterien. Ich erzähle nun nicht auch noch von Partizipation, sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für deren Eltern. Nur so viel: Gelebte Partizipation ist Voraussetzung für Inklusion.
Was ist der Mensch? Ja, tatsächlich, diese philosophische Frage stellen wir uns. Wir alle sind gleich und sind es dann auch wieder nicht. Jeder hat seine individuelle Persönlichkeit. Niemanden gibt es doppelt. So sind wir also alle Menschen und zugleich individuell und völlig unterschiedlich. Diesem großen Geschenk des Lebens wollen wir mit Wertschätzung begegnen.
Und: Was ist eigentlich normal? Was liegt denn in der "Norm" - also in dem üblichen Durchschnitt - unserer sich verändernden, zusehends alternden, kleiner und multikultureller werdenden Gesellschaft? Was heute besonders zu sein scheint - eine dunkle Hautfarbe vielleicht, der Blindenstock oder Männer in weiten Kaftans - wird angesichts von Zuwanderung und demografischem Wandel morgen schon völlig normal sein.
Wir möchten dem Gebot einer toleranten Lebenshaltung folgen - auch im Umgang mit uns selbst, denn: Niemand kann alles können. Es zu versuchen, ist anstrengend und unnötig, weil ja jeder etwas kann. Die Kunst besteht darin herauszufinden, wo die eigenen Fähigkeiten liegen. Wenn jeder weiß, welche Talente er hat und wenn er die eigenen und fremden Defizite ohne Wertung anerkennt, kann er sein Können zum Wohle aller einbringen. Dafür wird er dann auch die Möglichkeiten anderer nutzen. So vernetzt wären wir als Gesellschaft wirklich stark.