sozial-Politik

Flüchtlinge

Interview

"Schwierige Abstimmungsprozesse"




Heinz-Josef Kessmann
epd-bild/Harald Westbeld
Die Wohnsitzauflage sorgt weiter für Unmut bei den Sozialverbänden. In Nordrhein-Westfalen spricht die Caritas bei der Umsetzung von "heillosem Chaos". Der Münsteraner Caritaschef Heinz-Josel Kessmann beklagt, die Auflage widerspreche dem Integrationsgedanken.

Heinz-Josef Kessmann war soeben in Klausur: Mit den Flüchtlingshelfern und Migrationsberatern seiner Diözese. Und was er dort von der Basis zu hören bekam, bestätigte seine grundsätzlich Ablehung der Wohnsitzauflage. Bei der Entscheidung über die Umsiedlung von Flüchtlingen sei noch eine weitere Behörde dazugekommen, was die Umsetzung deutlich komplizierter mache. Zudem fehlten vielerorts Wohnungen für die Menschen. Wie die Caritas die Lage einschätzt, berichtet Kessmann im Gespräch mit Dirk Baas.

epd sozial: Die Caritas hat ihre Jahreskampagne "Zusammen sind wir Heimat" genannt und wirbt für eine offene Gesellschaft. Zugleich gilt in Nordrhein-Westfalen und den meisten anderen Bundesländern die Wohnsitzauflage. Wie passt das zusammen?

Heinz-Josef Kessmann: Unsere Jahreskampagne setzt sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den geflüchteten Menschen auf den Integrationsgedanken. Sie wirbt für Verständnis für die damit verbundenen Anstrengungen. Wir müssen aber feststellen, dass immer wieder gesetzliche Regelungen diesem Integrationsgedanken widersprechen. Dazu gehört auch die Wohnsitzauflage.

epd: Sie waren schon im Vorfeld des Integrationsgesetzes vehement dagegen, Flüchtlingen vorzuschreiben, wo sie zu leben haben. In NRW gilt die Auflage per Verordnung seit dem 1. Dezember. Wie wird sie umgesetzt und was haben Sie für erste Erfahrungen damit?

Kessmann: Für die Entscheidung über den Wohnsitz ist mit der Bezirksregierung noch eine weitere Behördenebene hinzugekommen. Das Ergebnis beschreibt eine unserer Migrationsmitarbeiterinnen kurz und knapp als "heilloses Chaos". Die Abstimmungsprozesse sind noch einmal deutlich schwieriger geworden. Jetzt müssen sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Ausländerbehörde und die Bezirksregierung einig werden. Und dann fehlen noch die Wohnungen, in die die Menschen verwiesen werden sollen.

epd: Die Regelung gilt nur für Flüchtlinge, die bis August 2016 noch nicht anerkannt waren. Wie viele Personen sind aktuell betroffen?

Kessmann: Darüber haben wir noch keinen Überblick. Unsere Migrationsdienste berichten aus ihrer Beratungsarbeit bislang nur von Einzelfällen. Deren Zahl wächst jedoch von Woche zu Woche. Problematisch ist außerdem, dass die bisher zuständige Kommune die finanziellen Leistungen für die Flüchtlinge nach dem Bescheid zum Unzug einstellen kann. Dann müssen sich die Betroffenen selbst darum kümmern, umzuziehen und auch neue Leistungen zu beantragen.

epd: Nach welchem System werden die Menschen im Land verteilt und spielt dabei auch eine Rolle, ob passender Wohnraum vorhanden ist?

Kessmann: Dafür gelten andere Kriterien, vorhandener Wohnraum spielt keine Rolle. Die Zuweisung zu den Kommunen hängt zum Beispiel davon ab, ob es dort eine zentrale Unterbringungseinrichtung des Landes gibt. Deren Platzzahl wird auf die Zahl aufzunehmender Flüchtlinge angerechnet.

epd: Eigentlich dürfen Betroffene drei Jahre lang die ihnen zugewiesene Gemeinde nicht verlassen. Unter welchen Bedingungen darf man denn überhaupt wieder umziehen?

Kessmann: Ein Umzug ist nur möglich, wenn Härtefallklauseln erfüllt sind. Das ist zum Beispiel der Fall bei Familienzusammenführungen mit minderjährigen Kindern. Allerdings handeln die Behörden hier sehr restriktiv und wenig integrationsfördernd.

epd: Sie warnen in der Integrationsdebatte vor Abschottung und Parallelgesellschaften. Aber entstehen die denn nicht genau dort, wo Migranten sich in großer Zahl sammeln, etwa in den Großstädten wie Köln, Essen, Duisburg oder Dortmund?

Kessmann: Neben der Bereitstellung von adäquatem Wohnraum muss auch gewährleistet sein, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt möglich ist. Ansonsten haben Sie durchaus recht. Bei freier Wohnsitzwahl wird es immer wieder passieren, dass sich Menschen einer Nationalität an wenigen Orten zusammenfinden. Das ist ein völlig normaler Prozess, den wir überall auf der Welt beobachten. Es gibt auch deutsche Viertel in vielen Metropolen dieser Welt. Warum wollen wir das den Flüchtlingen in unserem Land verwehren?

epd: Bei der SPD heißt es, die Auflage fördert den Integrationsprozess? Warum stimmt das aus Ihrer Sicht nicht?

Kessmann: Die Wohnsitzauflage nimmt weder auf Arbeitsmarktbedingungen noch auf familiäre Beziehungen oder tatsächlich vorhandenen, bezahlbaren Wohnraum Rücksicht. Mit der wichtigste Faktor für eine gelingende Integration ist aber ein Arbeitsplatz.

epd: Kommen wir noch einmal zur Jahreskampagne zurück. Wie kann es gelingen, dass die Flüchtlinge sich schneller heimisch fühlen und die Werte und Regeln in Deutschland anerkennen?

Kessmann: Ideal ist es, wenn die Flüchtlinge offen sind und auf eine offene Gesellschaft treffen. Das erleben wir an vielen Orten, zum Beispiel in den Patenschaftsprojekten, in denen Ehrenamtliche sie begleiten. Da stellen wir ein ungebrochenes Engagement fest. Eine abgeschottete Gesellschaft behindert eine Integration - das Schüren von Angst, wie es manche Politiker weiterhin betreiben, umso mehr.

epd: Sie rügen auch, dass eine institutionalisierte Mitsprache von Asylsuchenden und Flüchtlingen fehlt. Wer in der Politik ist gefordert, hier mehr Teilhabe zu ermöglichen?

Kessmann: Grundsätzlich sind da alle Ebenen gefragt, aber vor allem sind die Kommunen gefordert, den Migranten Mitsprachemöglichkeiten anzubieten. Das würde eine Integration, die auf Mitwirkung setzt, deutlich erleichtern. Und anfangen müssen wir in unseren eigenen Einrichtungen. Auch hier ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.


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