sozial-Branche

Behinderung

Gastbeitrag

Den Vorurteilen täglich begegnen




Gisela Graf-Fischer
epd-bild/Samariterstiftung
Menschen mit Behinderung leben nicht mehr nur auf der grünen Wiese, sondern auch vermehrt zentral in der Stadt. Das ist gut so, aber nicht immer einfach, schreibt Gisela Graf-Fischer, Bereichsleiterin Wohnen der Samariterstiftung Behindertenhilfe Ostalb in ihrem Gastbeitrag. Vorurteile des Umfeldes machten das Leben der Menschen mit Unterstützungsbedarf schwer.

Zu den differenzierten Wohnangeboten der Samariterstiftung Behindertenhilfe Ostalb gehören seit 1977 dezentrale Außenwohngruppen. In diesen stationären Außenwohngruppen leben zwischen fünf und 13 Personen an drei verschiedenen Wohnorten.

In den verschiedenen Außenwohngruppen und in vielen Wohngemeinschaften im ambulant betreuten Wohnen werden sehr viele positive, bereichernde und unterstützende Erfahrungen mit Nachbarn und natürlich dem nahem Wohnumfeld gesammelt. Die Menschen mit Unterstützungsbedarf erleben einen selbstverständlichen und unkomplizierten Umgang mit ihrer Nachbarschaft. Sie sind in ihrem sozialen Umfeld anerkannt, und das ist gut so.

Lange Liste der Beschwerden

Leider gibt es aber auch Vorurteile, die die Menschen in den Wohngemeinschaften sehr belasten und auch wütend machen. Ein Beispiel:

Seit neun Jahren haben wir eine 5-Zimmerwohnung für eine stationäre Außenwohngruppe in einem Mehrfamilienhaus angemietet. Schon von Anfang an wurde die Wohngemeinschaft für Unannehmlichkeiten verantwortlich gemacht. Wenn es im Treppenhaus schlecht gerochen hatte oder die Treppe verdreckt war, fiel das zuerst auf die Menschen mit Behinderung zurück.

Zigarettenkippen vor dem Haus wurden dem Raucher mit Behinderung zugeschrieben, obwohl sich dieser akribisch daran hält, in einem Schraubverschlussglas seine Zigarettenstummel zu entsorgen. Es wurde ein Rauchverbot auf dem vorhandenen kleinen Balkon am Gemeinschaftsraum ausgesprochen, damit die Nachbarn nicht durch Zigarettenrauch belästigt werden.

Ob Raucher ohne Behinderung bei vorhandenen Balkonen immer diese erwünschte Verhaltensweise zeigen, ist zu bezweifeln. Kurios: Selbst Betriebsstörungen des Aufzugs werden den Menschen mit Behinderung angelastet.

Raucher dürfen am Abend den Lift nicht nutzen

Die Hausmitbewohner akzeptieren inzwischen immerhin, dass vor dem Haus geraucht wird, aber seit geraumer Zeit darf ab 21 Uhr der Fahrstuhl von Rauchern nicht mehr benutzt werden. Der Lift ist einer Nachbarin zu laut. Zitat aus einem Beschwerdebrief unseres Vermieters nach der Eigentümerversammlung vor drei Jahren:

"Der Aufzug wird von einem Ihrer Leute laufend benutzt, um außerhalb des Gebäudes zu rauchen, wobei das in einer sehr hohen Frequenz geübt wird. (…) Dabei stören nicht nur die Fahrgeräusche des Aufzugs, sondern auch der Gestank innerhalb der Kabine. Das vor allem auch deshalb, weil der Betreffende seinen unangenehmen Körpergeruch dort verbreitet. (…) Ich muss Sie bitten, umgehend für Abhilfe zu sorgen. Ein wichtiger Punkt scheint mir vor allem der Umgang mit einem Bewohner, der starker Raucher ist und eventuelle Verwarnungen nicht ernst nimmt. Hier müssen stärkere Maßnahmen erfolgen."

Tatsächlich bemühen sich Bewohner der Wohngemeinschaft sehr, nicht aufzufallen, alles richtig zu machen und den Erwartungen der Hausgemeinschaft zu entsprechen.

Neue Nachbarn, neue Sorgen

Zwei Straßen weiter haben wir vor mehr als 25 Jahren eine wunderschöne Villa in einem vornehmen Viertel der Kleinstadt gekauft und für eine Außenwohngruppe mit 13 stationären Plätzen in Betrieb genommen. Dort leben aktuell unter anderem auch drei Rollstuhlfahrer/innen.

Mit der Ankunft in der Siedlung wurde von der Einrichtung ein Nachbarschaftstreffen initiiert, das im Garten der Wohngruppe gefeiert wurde. Alles lief gut, es gab wechselseitige Kontakte, Probleme wurden kaum bekannt. Inzwischen ist jedoch eine jüngere Generation der Nachbarn groß geworden.

Und mit den Veränderungen in der Nachbarschaft haben wir in den letzten Jahren leider zunehmend auch mit Vorurteilen und stark abwertenden Menschenbildern zu kämpfen: Die Hausbewohner mit Behinderung werden nicht nur als zu laut empfunden, sondern gar als "Papageien" bezeichnet.

Damit nicht genug. Den betreuenden Mitarbeitern wird vorgeworfen, dass sie sich zu wenig mit den Menschen mit Behinderung beschäftigen: "Das ist doch wie bei Kindern, wenn sie genügend beschäftigt werden, läuft alles viel besser…". Auch werden die Menschen mit Behinderung als "faul" tituliert. Und man wirf ihnen vor, "das Arbeiten nicht erfunden" zu haben.

Es fehlt überall an Respekt

Was wir beobachten ist, dass es oft an einem respektvollen Umgang fehlt. Die erwachsenen Menschen mit Handicap werden grundsätzlich geduzt und über ihre Köpfe hinweg werden Mitarbeitende zu ihnen befragt. Dabei haben Klienten, die in den Augen der Nachbarschaft kein sehr ansprechendes Äußeres haben, mit deutlich mehr Vorurteilen bedacht. Betroffene mit eher kindlichem Äußeren werden viel freundlicher behandelt, aber eben auch nicht als erwachsene Mitbürger angesehen und respektiert.

Doch auch andere Personen haben offenkundig kein Bewusstsein, dass, wenn sie die WG betreten, in die Privatsphäre von Menschen mit Behinderung kommen. Ich denke dabei an Mitarbeiter des Fahrdienstes oder des Wäschedienstes. Sie benutzen, ohne zu fragen, die Toilette der Bewohner. Die Nachbarn werfen, ebenfalls ohne zu fragen, ihren Biomüll in die Mülltonne der Wohngemeinschaft. Grenzüberschreitungen, die an anderer Stelle sicherlich schnell dazu führen würden, dass die Polizei kommt.

Konfrontiert man die Anwohner oder Mitarbeiter mit diesen fragwürdigen Verhaltensweisen, dann sind sehr unterschiedliche Reaktionen zu erleben. In der Regel wird sehr erschrocken beziehungsweise betroffen reagiert. Es gibt Mitbürger, die dann regelrecht beleidigt sind und mit völligem Unverständnis reagieren - sicherlich auch aus einer großen Unsicherheit heraus. Aber es gibt immerhin auch Personen, sich für ihr Verhalten entschuldigen.

Die Mitarbeiter sind täglich gefordert

Uns als Mitarbeitenden der Einrichtung fällt es schwer, den Abbau vorhandener Vorurteile zu bewirken. Es ist wichtig, Gesprächsmöglichkeiten zu nutzen und positive Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Entscheidend in dieser Situation ist es, dass Menschen mit Behinderung aktiv ihre Rolle als vollwertige Mieter wahrnehmen. Mit viel Geduld konnte mehr Verständnis für einander aufgebaut werden.

Das agierende Team vor Ort muss eine hohe Reflexionskompetenz besitzen. Auch die eigenen Verhaltensweisen müssen stets kritisch hinterfragt werden. Denn wenn die Nachbarschaft nicht über die Köpfe von Menschen mit Behinderung hinweggehen gehen sollen, müssen sich auch die Mitarbeitenden immer wieder fragen, ob sie wirklich wissen, was gut für die Betroffenen ist.

In der Behindertenhilfe müssen sich die Profis jeden Tag die Frage stellen, welche Hilfe ein Mensch tatsächlich braucht, um möglichst gesund und kompetent am möglichst normalen Leben teilhaben zu können. Die Antwort auf diese Frage fällt alles andere als leicht. Sie erfordert ein konsequentes Miteinander und die Berücksichtigung aller Faktoren, die eine Lebenssituation gestalten und beeinflussen.

Gisela Graf-Fischer ist Diplom-Sozialpädagogin und Bereichsleiterin Wohnen der Samariterstiftung Behindertenhilfe Ostalb.

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