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Der Experte für Klumpfüße kommt aus Afghanistan




Mohammad Tawakoli zeigt vier von ihm hergestellte Präszisions-Einlagen.
epd-bild / Thomas Lohnes
Der Afghane Mohammad Tawakoli war fast sein ganzes Leben lang auf der Flucht. Diskriminierungen, Bomben und Terror prägten seinen Alltag. Bis sich vor vier Jahren im hessischen Bad Vilbel eine Tür in eine friedvolle Zukunft auftat.

Mohammad Tawakoli ist Experte für Hammerzehen, Klumpfüße und Fersensporne. Zu den Aufgaben des 28-jährigen afghanischen Flüchtlings gehört es, Fehlstellungen an den unteren Extremitäten zu erkennen und Patienten mit selbst gefertigten Präzisionseinlagen oder Maßschuhen zu helfen. Mohammad hat im Januar in Bad Vilbel im Betrieb von Steffen Kreiling eine Lehre zum Orthopädie-Schuhmacher abgeschlossen und arbeitet seitdem als Geselle. Sein Weg dorthin war allerdings lang und steinig.

Ein Leben auf der Flucht

Im Grunde war der junge Afghane mit dem modischen Undercut und dem akkurat getrimmten Drei-Tage-Bart fast seit ganzes Leben lang auf der Flucht. "Ich bin bereits als Säugling mit meinen Eltern aus der zweitgrößten afghanischen Stadt Kandahar ins Nachbarland Iran geflohen, dort aber trotz einer Schulausbildung einem Job in einem Schuhladen nicht heimisch geworden", erzählt Mohammad. "In Afghanistan gehörten wir zur bedrohten schiitischen Minderheit, und in Iran wurden wir als Fremde geschnitten." Kein Wunder also, dass nach einigen Jahren im Exil die inzwischen größer gewordene Familie Tawakoli wieder nach Kandahar zurückkehrte.

Als nach dem angekündigten Abzug der westlichen Truppen im Land am Hindukusch abermals das Chaos einzieht, sehen sich die Eltern von Mohammad 2010 gezwungen, ihn und seinen jüngeren Bruder Ali auf die Reise in das vermeintlich sichere Europa zu schicken. Die Fluchtroute führt durch den Iran und die Türkei. In Griechenland besteigen die beiden schließlich mit gefälschten polnischen Pässen ein Flugzeug nach Berlin. Weil der Großvater in Frankfurt lebt, landen Mohammad und Ali zunächst in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen und später in einem Flüchtlingswohnheim in Büdingen.

Win-Win-Situation für beide

Mohammad, den sie schon im Iran wegen seiner braunen Haare und der hellen Haut "den Deutschen" nannten, ist freundlich, ehrgeizig und klug. Mit Unterstützung einer älteren Dame erlernt er in knapp zwei Jahren die Sprache seines Gastlandes, schafft ohne Mühe seinen Hauptschulabschluss und erhält eine Aufenthaltserlaubnis. Die ihm angebotene Lehrstelle als Maler und Lackierer lehnt er jedoch ab und besorgt sich stattdessen auf eigene Faust seine Wunschausbildung zum Orthopädie-Schuhmacher. Nach einem dreiwöchigen Praktikum bei Schuh-Schmitt in Bad Vilbel ist Inhaber Steffen Kreiling von Mohammads Qualitäten überzeugt und stellt ihn ein.

Der junge Afghane absolviert seine dreieinhalbjährige Ausbildung ohne Probleme. Der 52-jährige Kreiling, der seit Jahren im Vorstand der Evangelischen Christuskirchengemeinde in Bad Vilbel mitarbeitet, fungiert als Mentor und Motivator. Er vermittelt ihm eine Wohnung im Haus seiner Schwiegereltern, begleitet ihn zu Behörden und unterstützt ihn bei der Erlangung seines Führerscheins. "Wir hatten eine tolle Ausbildungszeit. Es war eine Win-Win-Situation für uns beide", betont der zweifache Familienvater. "Mohammad ist mir sehr ans Herz gewachsen und inzwischen so etwas wie mein drittes Kind."

Glänzende Perspektiven

Jetzt möchte der liberale schiitische Moslem etwas von der "Mitmenschlichkeit" zurückgeben, die er in Deutschland nach eigenem Bekunden erfahren hat. So begleitet er in seiner Freizeit junge afghanische Flüchtlinge bei Behördengängen, bei Arztbesuchen und in der Freizeit. Dass die Geretteten und in der Regel gut Versorgten in ihrem Gastland Angst und Schrecken verbreiten wie vor einigen Monaten ein afghanischer Jugendlicher mit einer Axt-Attacke in einem Regionalzug bei Würzburg, verstehe er nicht, sagt Mohammad mit fast tonloser Stimme. Für ein solches Verhalten könne er sich nur schämen.

Die Perspektiven für den jungen Mann sind glänzend. Inzwischen leben alle seine sieben Geschwister und auch die Eltern in Deutschland, beziehungsweise in England. Das vermittelt ihm, dem ältesten Sohn, ein Gefühl von Sicherheit und Freiheit. Als nächstes will er zusammen mit seinem Meister-Mentor die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und sich ein kleines Auto kaufen. Und später vielleicht eine eigene Familie gründen und für sie ein kleines Häuschen bauen, "am liebsten in der Wetterau". Wenn man Kreiling glauben will, stehen dafür die Chancen nicht schlecht: "Als Orthopädie-Schuhmacher kann man sich in Deutschland die Jobs aussuchen."

Dieter Schneberger

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