sozial-Politik

Strafvollzug

Jugendliche

Haft ohne Mauern




Der 20-jährige Isat arbeitet in der Metallwerkstatt des "Seehaus" an einem Balkongeländer.
epd-bild / Thomas Lohnes
Keine Mauern, keine Zäune, keine Wärter. Dafür ein Mitarbeiter pro Jugendlichem, familiäre Wohngruppen und ein strukturierter Tagesplan: Im freien Strafvollzug sollen Jugendliche an sich arbeiten - und später nicht wieder straffällig werden.

Dienstage beginnen um 5.40 Uhr morgens: Schnell aufstehen, denn in fünf Minuten ist Frühsport. Der Tag ist minutiös durchgetaktet bis zur Bettruhe um 22 Uhr und dem Lichtausschalten 15 Minuten später. Die strenge Planung muss sein, denn die jungen Männer kannten vorher keine Strukturen und hielten sich nicht an Regeln. Die meisten der 14- bis 23-Jährigen wurden wegen Gewalttaten wie Körperverletzung, Raub oder Erpressung verurteilt.

Knast im Grünen

Ihre Haftzeit verbringen die jungen Männer nicht hinter Gittern, sondern im Seehaus Leonberg mitten im Grünen, etwa 13 Kilometer westlich von Stuttgart. Der freie Träger vollzieht die Jugendstrafe ganz ohne Gefängniswärter, dafür mit einem Mitarbeiter pro Jugendlichem. "Die jungen Gefangenen dürfen das Gelände nicht verlassen, werden aber nicht durch Mauern daran gehindert", erklärt Geschäftsführer Tobias Merckle. Wer ausbüchst, wandert wieder in den geschlossenen Vollzug.

4.400 junge Menschen wurden laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2015 nach Jugendstrafrecht zu einer Haft verurteilt. 97 Prozent von ihnen waren Jungen und Männer, die meisten saßen im klassischen Gefängnis. Rund 400 der Straftäter befanden sich im offenen Vollzug und durften für Schule oder Arbeit das Gefängnis verlassen.

Seit 1953 gibt es außerdem die rechtliche Grundlage für den Strafvollzug in freien Formen. Baden-Württemberg setzte ihn als erstes Land 50 Jahre später mit dem Projekt "Chance" um. Zu den zwei Pilotprojekten zählte auch das Seehaus. Mittlerweile gibt es in Deutschland insgesamt vier Einrichtungen des freien Jugendstrafvollzugs, jeweils eine wurde in Sachsen und Brandenburg gegründet.

Neue Emotionen

Im Seehaus leben durchschnittlich 15 junge Männer in familiären Wohngruppen. Die Sozialpädagogen nehmen zu ihren eigenen Kindern noch fünf oder sieben "ältere Brüder" auf, die auch mit den Kindern spielen, erzählt Merckle. "Sie werden aufgenommen in eine Familie. So lassen die Jungs ganz neue Emotionen zu. Viele erfahren zum ersten Mal Liebe und Geborgenheit in einer Familie." Diese könnten sie sich dann später zum Vorbild nehmen, wenn sie selbst eine Familie gründen wollten.

Außerdem holen die jungen Männer ihren Hauptschulabschluss nach und absolvieren das erste Lehrjahr für einen der angebotenen Ausbildungsberufe. Ihre Freizeit lernen sie mit Hobbys wie Sport und Musik zu gestalten. Im Austausch mit Opfern von Verbrechen setzen sich die Straftäter mit ihren Vergehen auseinander. "Die Täter erfahren zum ersten Mal, dass ein Opfer von einem Einbruch oder Handtaschenraub auch noch zehn Jahre später darunter leiden kann", sagt der Sozialpädagoge. "Wenn man sechs Opfern gegenüber sitzt, die ihre Leidensgeschichte erzählen, geht das unter die Haut."

Hohe Resozialisierungsquote

Auf einen Platz im Seehaus müssen sich die jungen Männer mit Anschreiben und Gespräch bewerben. Sexualstraftäter sind ausgeschlossen. "Die jungen Männer kriegen eine wahnsinnige Chance und können etwas aus sich machen", sagt Merckle. Etwa 30 bis 40 Prozent der jungen Männer brächen ab, weil es ihnen zu stressig werde. Dass so viele blieben, sei der eigentliche Erfolg, meint der 46-Jährige: "Unsere Jungs haben davor alles abgebrochen."

Im Laufe ihrer Zeit im Seehaus erhalten die jungen Männer immer mehr Freiheiten. Zuerst bewegen sie sich in Gruppen auf dem Gelände. Später dürfen sie einmal die Woche mit anderen in den Sportverein. "Zwei gehen einmal die Woche in ein Altersheim, um sich dort ehrenamtlich einzubringen", berichtet Merckle. "Es ist schön zu sehen, wie die Jungs ihre Gaben, die sie früher für Kriminelles genutzt haben, jetzt positiv nutzen."

Nach dem Seehaus gehe nur jeder vierte Absolvent wieder ins Gefängnis, im geschlossenen Vollzug ist es jeder Zweite. Noch im Seehaus arbeiteten die jungen Männer als Praktikanten in einem externen Betrieb. Fast alle bekommen laut Merckle danach eine Zusage, ihre Ausbildung dort fortzusetzen. "Es lohnt sich für jeden Einzelnen", sagt Merckle. "Das sind Jungs, die keine Hoffnung mehr hatten und in die die Gesellschaft keine Hoffnung mehr hatte. Aber wenn man ihnen Hoffnung gibt, können sie selbst zu Hoffnungsträgern werden."

Jana Hofmann

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