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Dorfläden: Kartoffeln, Eier und ein Schnack




Sandra Feldmann-Hecht (re.) im Gespräch mit einer Kundin im Dorfladen in Bolzum.
epd-bild/Jens Schulze
Immer mehr kleine Einzelhändler auf dem Land müssen Discountern weichen und ihre Läden schließen. Seit einigen Jahren wehren sich Einwohner und eröffnen eigene Dorfläden. Sie dienen als sozialer Treffpunkt und sollen für neues Leben im Ort sorgen.

Zwischen Regalen mit Brot, Wurst, Nudeln, Gemüse und Hygieneartikeln sitzt im Dorfladen Bolzum bei Hannover eine alte Dame auf ihrem Rollator. Sie unterhält sich angeregt mit einem Ehepaar. "Wenn's geht, komme ich jeden Tag hierher", erzählt die 82-Jährige. "Ich husche dann mal schnell um die Ecke und kaufe alles für den täglichen Gebrauch." Sogar ihren Geburtstag hat die Stammkundin schon in dem Café mit den alten Holzbalken gefeiert, das zum Dorfladen gehört. Eine Bürgerinitiative hat den Laden vor gut einem Jahr eröffnet.

Er ist einer von mehr als 200 Dorfläden in Deutschland. Das Besondere: Sie alle dienen nicht dem Profit. Und sie alle entstehen eigentlich aus der Not heraus.

Bäcker schloss als letztes Geschäft

So war es auch in Bolzum. Denn als vor drei Jahren der Bäcker dicht machte, gab es in dem niedersächsischen 1.200-Einwohner-Dorf plötzlich keine Einkaufsmöglichkeit mehr, wie Frauke Lehrke erzählt. Sie gehört zur Gruppe der Ladengründer und hat vor zwei Monaten die Marktleitung übernommen. "Auf einer Dorfversammlung kam heraus, dass wir einen neuen Bäcker und einen Treffpunkt haben wollten", sagt die 35-Jährige. Also nahm sie Kontakt zu anderen Dorfläden auf.

Allein in Bayern gibt es 130 solcher Laden-Initiativen. Die meisten werden von den Dorfeinwohnern als genossenschaftliches Modell betrieben. "Das Fundament ist, dass möglichst viele Bürger sich beteiligen, mit Zeit und Kapital", erläutert Günter Lühning aus dem niedersächsischen Otersen bei Verden. Er ist Vorsitzender des Dachverbands "Bundesvereinigung multifunktionaler Dorfläden", der sich im vergangenen Januar auf der Internationalen Grünen Woche in Berlin gegründet hat.

210 Bürger investierten ihr Geld

Auch in Bolzum haben alle mit angepackt. Ein altes Haus wurde gekauft und gemeinschaftlich kernsaniert. Insgesamt 210 Bürger haben Geld in den Dorfladen investiert. "Hier spielt ein Vertrauen eine große Rolle, das es sicherlich nur noch auf dem Dorf gibt", sagt Frauke Lehrke.

Mittlerweile arbeiten in dem 150 Quadratmeter großen Laden vier Teilzeitkräfte, fünf Mini-Jobber und rund 25 Ehrenamtliche. Die Arbeit macht ihr Spaß, sagt Lehrke. "Wir bekommen hinterher immer einen Kaffee und tauschen Kochrezepte aus." Der Dorfladen als Treffpunkt. Für Lehrke ist er außerdem "ein Aufbäumen gegen das Sterben der Dörfer".

Ingrid Heineking ist Raumplanerin und forscht an der Universität Hannover zur Nahversorgung im ländlichen Raum. Es gebe viele Faktoren, warum immer mehr kleine Läden auf dem Dorf schließen, sagt sie: Dazu gehören der Discounter am Ortsrand, der eine größere Auswahl zu niedrigeren Preisen anbietet, oder der Ladenbesitzer, der keinen Nachfolger findet. "Aber auch die Bevölkerung, der bewusst sein muss, wie wichtig ihr dieser Laden ist und dann nicht auf dem Weg zur Arbeit beim Discounter einkauft."

Einer der großen Unterschiede zum Dorfleben vor 20 oder 30 Jahren sei die Mobilität, sagt Heineking. Bis auf die ganz alten und ganz jungen Menschen kann jeder selbst entscheiden, wo er einkauft. Und noch etwas ist anders als früher: "Die Lebensentwürfe auf dem Land unterscheiden sich kaum noch von denen in der Stadt." Auch auf dem Dorf wollen die Menschen Bioprodukte kaufen und wünschen sich eine große Auswahl.

Ein Dorfladen steht für Austausch und Gemeinschaft. "Aber es gibt auch viele Orte, die ihre Bewohner nicht dazu bekommen, sich für einen Dorfladen zu engagieren", sagt Heineking.

Gründungen liegen im Trend

Für Günter Lühning sind die Dorfladen-Initiativen dennoch ein Trend. Als er selbst vor 15 Jahren einen Laden in Otersen gründete, erntete er erst mal Spott und Skepsis. "In den vergangenen Jahren hat sich dieser Trend verstärkt, heute belächelt uns keiner mehr." Deutschlandweit kontaktieren neue Initiativen den Dachverbandsvorsitzenden und bitten um Beratung. Auch in Ostdeutschland, wo es bisher kaum Dorfläden gab, stünden neue Gründungen an.

Wie es mit dem Trend weitergeht, kann Lühning nicht abschätzen. "Die Nachfrage nach Selbsthilfeeinrichtungen wird immer größer, ob aber alle überleben werden, lässt sich erst in fünf oder zehn Jahren sagen." Für seinen Laden in Otersen wird es mit Sicherheit eine Zukunft geben, denn für Lühning ist klar: "Ich bin in Otersen geboren und will da alt werden, deswegen engagiere ich mich."

Leonore Kratz

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