Ausgabe 25/2016 - 24.06.2016
Berlin (epd). Es ist kaum zu glauben, dass es Mohammed geschafft hat, im Rollstuhl aus Syrien über die Balkanroute nach Deutschland zu kommen. Sein Neffe hat zwar den jungen Syrer die ganze Zeit unterstützt, aber eine so gefährliche Reise ohne Beine und mit nur einem Arm anzutreten, dazu gehört schon besonders viel Mut. Weil Mohammed, der seinen Nachnamen nicht sagen will, in seinem Beruf als Tischler nicht mehr arbeiten kann, will er nun möglichst schnell Deutsch lernen und dann Grafikdesign studieren.
Mohammed hatte in Deutschland Glück: Kurz nach seiner Ankunft durfte er in ein Heim für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge einziehen. Davor war Mohammed in einer Erstaufnahmeeinrichtung. "Die war viel größer, es gab viel mehr Menschen - und sehr viele Spannungen", sagt er. "Außerdem war sie nicht rollstuhlgerecht."
Als besonders schutzbedürftig gelten nach der EU-Aufnahmerichtlinie Menschen mit Behinderung, psychisch oder chronisch kranke Personen, Minderjährige, Alleinerziehende, allein reisende Frauen, Alte und Opfer von Gewalt und Menschenhandel. Das Heim, in dem Mohammed wohnt, ist eines von fünf seiner Art in Berlin. Es hat 300 Plätze. Vor allem Kranke, Traumatisierte und Menschen mit Behinderungen wohnen hier. Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei weitem, erklärt Heimleiter Wolfgang Keller: "Wir bekommen fast täglich Anfragen, die wir nicht befriedigen können."
Nach Angaben des Berliner Netzwerks für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (BNS) gibt es in Berlin zurzeit einen Bedarf von rund 28.000 Heimplätzen für Geflüchtete. Etwa 30 bis 50 Prozent der Flüchtlinge erfüllen laut Sven Veigel-Sternberger vom BNS die Kriterien für besondere Schutzbedürftigkeit. Derzeit könne nicht einmal ein Viertel davon gemäß den EU-Richtlinien untergebracht werden. Auch in anderen Bundesländern ist der Bedarf nicht gedeckt.
Dafür, dass sich das ändert, wolle er sich persönlich einsetzen, sagt der Präsident des Bundesverbandes der Diakonie, Ulrich Lilie: "Es muss verpflichtend werden, dass Leute, die besonderen Schutz brauchen, ihn auch bekommen." Lilie ist sichtlich beeindruckt, als er da auf Mohammeds Bett im Erdgeschoss des kleinen Containerwohnheims am Berliner Stadtrand sitzt. Diakoniechef Lilie ist in die Einrichtung gekommen, um sich einen persönlichen Eindruck von der Arbeit vor Ort zu verschaffen.
In Heimen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge haben die Bewohner mehr Privatsphäre als in vielen Regeleinrichtungen. Der Personalschlüssel ist etwa eineinhalb mal höher als in anderen Flüchtlingsheimen. Außerdem gibt es barrierefreie oder zumindest barrierearme Zimmer und Waschräume.
Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) zahlt dem Betreiber der Einrichtung, der Milaa gGmbH, 15 Euro pro Tag pro Flüchtling. Das sei nicht genug, um die Kosten zu decken. Laut Geschäftsführerin Jeanne Grabner erhalten andere Träger bis zu 50 Euro. Immerhin habe das LaGeSo nun dem diakonischen Träger zugesagt, den Satz ab Juli auf 20 Euro aufzustocken. "Dann können wir endlich unseren Personalschlüssel erhöhen", sagt Grabner. Bisher kümmern sich zwölf Mitarbeiter um die 300 Bewohner, 15 sollen es werden.
Probleme entstehen, wenn ein Flüchtling aus dem Krankenhaus entlassen wird und übergangsweise Kurzzeitpflege braucht. "Dafür reichen unsere personellen und finanziellen Kapazitäten nicht", sagt Grabner. Muss ein Bewohner in Behandlung, etwa in eine psychiatrische Klinik, wird sein Heimplatz für die Zeit seiner Abwesenheit nicht weiterfinanziert. Neu belegt wird er trotzdem nicht, sagt Heimleiter Keller: "Sonst würde der Patient, wenn er einigermaßen wiederhergestellt ist, in die Obdachlosigkeit entlassen."
Sven Veigel-Sternberger vom Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge geht davon aus, dass der Bedarf an Plätzen in Einrichtungen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge sinken würde, wenn die Standards in der Regelunterbringung höher wären. Auch Diakoniechef Lilie ist sicher, dass es dann weniger Probleme in Flüchtlingsunterkünften gäbe: "Wir fordern schon lange, dass auch in den Regeleinrichtungen abschließbare Wohn- und Waschräume, außerdem für Männer und Frauen getrennte Wasch- und Duschräume Standard sind."
Als Lilie den Sportraum der Einrichtung besichtigt, kommt Mohammed mit seinem Rollstuhl vorbeigefahren. Ob der Diakoniechef ihm helfen könne, eine richtige Wohnung zu finden, fragt er direkt. Versprechen könne er nichts, sagt Lilie. Aber er könne sich erkundigen.