sozial-Politik

Interview

"Arbeitslosigkeit und Armut werden privatisiert"




Stefan Sell.
epd-bild/Hochschule Koblenz
Die Armen in Deutschland können nach Auffassung des Sozialwissenschaftlers Stefan Sell von Politikern keine Unterstützung erwarten. Denn für gewählte Abgeordnete sei Armut ein "Verlierer-Thema" bilanziert Sell bitter. Durch die Flüchtlinge werde sich die Lage "ganz unten" verschärfen.

In Deutschland, sagt der Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz, ist es für Kinder aus einkommensschwachen Familien besonders schwer, durch eine gute Schul- und Bildungskarriere der Armut zu entkommen. Der familiäre Hintergrund wirke in Deutschland stärker als in anderen Staaten Westeuropas. Warum Sell für Langzeitarbeitslose und Arme keine Verbesserungen erwartet, erklärt er im Interview mit Thomas Leif.

epd sozial: Woran liegt es, dass das Thema "Armut" in der Politik eher ein Randthema ist?

Stefan Sell: Wir haben in den 90er Jahren in der ganzen westlichen Welt den Siegeszug des Neoliberalismus gehabt. Damit geht einher, dass nahezu alles in der Gesellschaft privatisiert wird. Nicht nur Unternehmen, staatliche Unternehmen, sondern auch Arbeitslosigkeit und Armut werden privatisiert - dies wird also auf den Einzelnen zurückgeführt. Jeder ist seines Glückes Schmied oder eben seines Unglückes und dafür selbst verantwortlich. Das hat sich mittlerweile in den Köpfen so tief verankert, dass es gar nicht mehr infrage gestellt wird.

epd: Der Armut kann man entkommen. So haben arme Kinder die Möglichkeit, über Bildung aufzusteigen.

Sell: Leider ist es so, dass nirgendwo in Westeuropa der positive wie aber eben auch der negative Einfluss des Familienhintergrunds auf den Bildungserfolg so ausgeprägt ist wie in Deutschland. Das bedeutet allerdings, dass es mit dem Aufstieg durch Bildung gerade in den wirtschaftlich schwachen Haushalten leider nicht weit her ist - vor allem dann nicht, wenn die Eltern nicht über die kognitiven Ressourcen verfügen, ihre Kinder in der Schule besonders zu unterstützen. Nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie es schlichtweg nicht können.

epd: Es besteht ein großer Konsens unter Parteien und Experten, dass Kinderarmut bekämpft werden muss. Was folgt aus diesem Konsens?

Sell: "Kinderarmut" als solche gibt es gar nicht. Es handelt sich immer um eine abgeleitete Armut der Eltern. Deshalb kann man Kinderarmut auch nicht isoliert angehen, das muss scheitern. Doch die Verantwortlichen in der Politik blenden das leider aus.

epd: Gibt es eine Hierarchie beim Konfliktthema Armut?

Sell: Es gibt eine Hierarchie der Armut. Die Bevölkerungsmehrheit hat ganz klare moralische Vorstellungen, es gibt "gute" Arme und "schlechte" Arme. Und an dieser moralischen Unterscheidung entlang wird dann auch die Hilfsbereitschaft verteilt. Bei Themen wie Pflegebedürftige oder Behinderte gibt es eine große Empathie, ein großes Interesse zu helfen und sich für die Betroffenen einzusetzen. Aber ganz unten am Ende stehen die Langzeitarbeitslosen, für deren Belange sich nur wenige wirklich engagieren wollen.

epd: Wer gehört noch zu den "guten" Armen?

Sell: Zu den als "gute" Arme kategorisierten Menschen gehören auch die mehreren Hunderttausend alleinerziehenden Frauen, die im Hartz-IV-Bezug sind und sich nichts leisten können. Da sagen viele: Das geht eigentlich nicht, denn die haben doch Kinder. Hier muss geholfen werden. Die "schlechten" Armen, das sind diejenigen, denen nachgesagt wird, sie seien selber verantwortlich für ihre Situation oder sie seien faul und wollten nicht arbeiten gehen.

epd: Und dann gibt es noch die Armen, die man nicht sieht, etwa die verschämte Armut unter alten Menschen ...

Sell: Leider ist das so. Die Altersarmut wird ein großer sozialer Sprengstoff sein, den wir jetzt auf unserem Weg in die Zukunft vor uns liegen haben. Die Altersarmut steigt von Jahr zu Jahr. Viele Menschen, die unstete Erwerbsbiografien hatten, arbeitslos waren, gering bezahlt wurden, werden gesetzliche Renten beziehen, die unter Hartz IV liegen werden.

epd: Wenn die Lage so drängend ist, warum bewegt sich so wenig?

Sell: Zum einen, weil Armut ein Verlierer-Thema ist. Politiker, und das ist gar kein Vorwurf, haben eine sehr genaue Vorstellung davon, wer sie wählt und wer überhaupt wählen geht. In sozialen Brennpunkten, wo die Armen leben, liegt die Wahlbeteiligung mittlerweile bei unter 20 Prozent. In den guten Mittelschicht-Stadtteilen dagegen bei über 60, 70 Prozent. Und das wissen Politiker und fragen sich: Warum soll ich mich für Menschen einsetzen, die nicht einmal zur Wahl gehen?

epd: Die Armen werden als Wählerpotenzial abgeschrieben?

Sell: Richtig. Sie werden abgeschrieben, weil sie sich am politischen Willensbildungsprozess nur wenig beteiligen. Und es gibt ja auch kaum noch Stellvertreter, die für Arme sprechen. Ein paar Wohlfahrtsverbände versuchen das. Denen wir dann aber sofort unterstellt, sie hätten nur eigene Interessen, teilweise wird das mit solchen Begriffen wie "Armutsindustrie" effekthascherisch zugespitzt. Bei den Kirchen gibt es noch hier und da engagierte Persönlichkeiten und Gruppen, die gegen die Windmühlenflügel der Arbeitslosigkeit und Armut anzulaufen versuchen.

epd: Aber steckt nicht Sprengstoff im Thema? Wenn ungefähr jeder fünfte mit Armut konfrontiert ist, kann dies zu spürbaren sozialen Konflikten führen?

Sell: Es gibt die Vorstellung, dass ab einem bestimmten Ausmaß der Verarmung die Situation kippt und es deshalb zu Unruhen kommt. Wenn ich allerdings etwa auf das Ruhrgebiet schaue, wo wir in den letzten Jahren eine gewaltige Verarmungswelle erleben, dann glaube ich das nicht. Es sieht so aus, dass die Individualisierung so weit vorangeschritten ist, dass die Leute sich eher autoaggressiv verhalten. Sie ertränken ihre Situation in Alkohol, sie nehmen Drogen, sie werden krank. Wir haben die höchsten Krankheitsquoten und auch Krankheitsausgaben bei arbeitslosen, vor allem langzeitarbeitslosen Menschen. Auch bei ihnen ist die Individualisierung und Personalisierung von Arbeitslosigkeit und Armut angekommen, und das führt zu einer Paralyse jeglichen kollektiven Handelns.

epd: Warum gibt es keine Steuerreformen, die wirksam umverteilen würden?

Sell: Weil Politiker, die das fordern, konfrontiert werden mit den Widerständen der Betroffenen, denen sie etwas wegnehmen müssten, also der Mittelschicht, der oberen Mittelschicht und den Unternehmen. Sie sind außerdem mit einem aggressiven Medien-Kartell konfrontiert. Politiker, die in der Vergangenheit Vorstöße in diese Richtung gemacht haben, sind bei Wahlen durchaus abgestraft worden. Ich glaube, Politiker haben verstanden, dass sie mit solchen Forderungen ihre politische Existenz infrage stellen können.

epd: Welche Auswirkung hat diese Entwicklung langfristig?

Sell: Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr. Interessanterweise gibt es seit einigen Jahren viele neuere Untersuchungen, und zwar von den Zentren des Neoliberalismus, also Internationaler Währungsfond, OECD, Weltbank, die darauf hinweisen, dass die Spaltung negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und auf die gesellschaftliche Stabilität hat. Diese Studien besagen - und belegen das auch mit Daten - dass in Gesellschaften, in denen über Umverteilung ein geringerer Grad an Ungleichheit hergestellt wird, skandinavische Gesellschaften beispielsweise, auch die wirtschaftlichen Kennzahlen besser sind und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt deutlich harmonischer abläuft.

epd: Und warum kommt diese Botschaft bei den Politikern hier nicht an?

Sell: Weil viele das schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Es passt nicht in ihr Weltbild.

epd: Das heißt, das politische Thema Armut liegt weiter auf Eis?

Sell: Derzeit auf alle Fälle. Das Thema könnte aber möglicherweise durch den Druck der Verhältnisse aufgerufen werden. Wir erleben nämlich eine Vervielfachung des Armuts- und Verarmungsproblems durch die vielen Menschen, die als Flüchtlinge zu uns kommen. Von denen werden nicht wenige im Hartz-IV-Bezug landen. Das wird die sozialen Spannungen zwischen den Armen und Ärmsten enorm ansteigen lassen. Leider. Das lässt sich schon heute beobachten, etwa auf dem "Markt" für bezahlbaren Wohnraum.

epd: Der Kampf "ganz unten" wird sich also verschärfen?

Sell: Natürlich. Sie können das beobachten, wenn Sie zu Tafeln gehen. Dort gibt es sozusagen die alteingesessenen Armen, die auf einmal beobachten, dass neue Bedürftige kommen - und jetzt ist auf einmal weniger da. Da entstehen neue Konflikte.


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