Ausgabe 13/2016 - 01.04.2016
Bonn (epd). Schulwechsel sind für ihn ein Horror. Karsten Wellinghoff (Name geändert) ist es einfach nie gelungen, wieder Anschluss zu finden. "Dabei tue ich niemandem etwas. Ich habe immer nur versucht, irgendwie dabei zu sein", sagt der 16-Jährige. Doch Karsten gibt zu, dass die Umwelt ihn wohl immer in Abwehrhaltung erlebt habe. Er senkt den Kopf. Er hat eine Odyssee hinter sich - einfach weil er schon als Kleinkind anders tickte als seine Altersgenossen. Beim ihm liegt das Asperger-Syndrom vor, eine Autismus-Störung.
Am 2. April, dem Welt-Autismus-Tag der Vereinten Nationen, soll für die angeborene und unheilbare Entwicklungsstörung sensibilisiert werden. Bei Autisten ist die Wahrnehmung und die Informationsverarbeitung des Gehirns verändert. Sie haben Schwierigkeiten, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, mit ihnen zu kommunizieren und soziale Verhaltensregeln einzuhalten.
Karsten Wellinghoffs Erinnerungen wiegen schwer: Irgendwann warf ihn eine Schülergruppe die Treppe hinunter. Dann kamen Kinder zu seinem Haus, warfen eine Plastikflasche durchs Fenster. "Das war der Alptraum. Er wollte überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Ich hatte Angst, dass mein Sohn Suizidgedanken bekommt", sagt seine Mutter.
Die ersten Jahre auf wechselnden Schulen seien schlimm gewesen, vor allem die Ignoranz der Lehrer. "Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut", erzählt die Mutter. In der Förderschule war Karsten unterfordert. In der Regelschule sprach die Schulpsychologin von Überforderung.
Karsten Wellinghoff sei beeinträchtigt in der Kommunikation und sozialen Interaktion, besitze aber gute sprachliche Fähigkeiten und eine hohe Intelligenz, erklärt die Bonner Therapeutin Monika Stölting. Asperger-Autisten wie er verfügen meist über normale kognitive Begabungen, einige sind auch hochbegabt. Nur ihr Sozialverhalten wird von anderen als schwierig empfunden. Darum wird der Autismus bei ihnen oft erst spät erkannt.
In Europa geht man nach Angaben des Bundesverbands Autismus Deutschland e.V. von mindestens sechs Autisten auf 1.000 Kinder aus. Dabei kann Autismus, wie etwa bei dem von Dustin Hoffmann in dem Film "Rain Man" gespielten Rechengenie, durchaus sogenannte Inselbegabungen freisetzen. Generell habe ein Mensch mit einer Autismus-Spektrum-Störung ein hohes Bedürfnis nach festen Abläufen und Strukturen, er lebe eine andere Emotionalität, erklärt die Therapeutin.
"Naja", sagt Karsten, "irgendwie habe ich mich schon immer als Sonderling gesehen." Er sei eben introvertiert. Ein halbes Jahr lang wurde er einfach nur krankgeschrieben - bis bei ihm endlich das Asperger-Syndrom erkannt wurde. Letztlich, sagt Karstens Mutter, sei die Diagnose eine befreiende Nachricht gewesen. Endlich wusste die Familie, was los war.
Tagsüber ging Karsten Wellinghoff nun zunächst in eine jugendpsychiatrische Einrichtung. Und lernte, sich zu sagen: "Ich muss erreichen, mit dem Asperger zu leben. Das ist keine Krankheit." Über das Jugendamt erhielt die Familie eine ambulante Eingliederungshilfe für Jugendliche mit seelischer Beeinträchtigung. Die Therapeutin war von nun an für die autismusspezifische Förderung und Beratung der ganzen Familie verantwortlich. Später kam eine Gruppentherapie hinzu.
"Wir haben immer wieder Alltagssituationen aufgegriffen, die für Karsten schwierig waren, um einen sozial kompatiblen Plan B aufzubauen", erklärt Therapeutin Stölting. So habe man gemeinsam immer wieder überlegt, wie der Junge oder seine Familie der Umwelt seine oft stereotypen Verhaltensmuster im Nachhinein erklären könnten. Den Autismus zu verstehen und trotz großer Ängste ein positives Selbstbild aufzubauen, das sei der Ansatz in der Förderung gewesen.
Die Therapie hat die ganze Familie erleichtert: "So haben wir es geschafft, Karsten nie aufzugeben und ihn so anzunehmen, wie er ist", sagt die Mutter. Der Junge nimmt heute wieder am Schulunterricht teil.
"Inzwischen komme ich super klar", sagt Karsten. Er ist stolz und träumt davon, das Abitur anzugehen. Er geht inzwischen sogar ein wenig auf Menschen zu. "Die soziale Interaktion ist jetzt einfacher", berichtet er und muss selbst lachen über seine Fachsprache. Ob er es aber irgendwann schaffe, allein zu wohnen - er ist sich nicht sicher.