Ausgabe 11/2016 - 18.03.2016
München (epd). Die Plinganserstraße 19 in München: Hier hat der gemeinnützige Verein "H-Team" seinen Sitz - und hier hat auch Wedigo von Wedel seinen Schreibtisch. Der 55-jährige Pädagoge betreut das nach seinen Angaben bundesweit einzige "Messie-Telefon": Damit können sich Menschen mit einer zwanghaften Sammelleidenschaft Hilfe holen. Oder deren Angehörige.
"Gerade hatte ich eine Mutter am Telefon, die über ihre Tochter und deren Wohnungszustand verzweifelt war", berichtet von Wedel. Die Tochter, Anfang 30, ist erwerbslos, "kriegt nichts auf die Reihe", stellt die Mutter resigniert fest. Die Wohnung sei so voller Gegenstände, dass sie kaum noch zu betreten sei. Aber, so die Experten: Das Messie-Phänomen, die Verwahrlosung der Wohnung durch Müll und vermeintliches Gerümpel, trifft keineswegs nur Arbeitslose oder "sozial Schwache", sondern auch erfolgreiche Berufstätige.
Seit 25 Jahren beschäftigt sich von Wedel mit diesem Problem und kennt auch viele Beispiele aus "bürgerlichen" Kreisen. Dabei denkt er zum Beispiel an jene Frau mit einer leitenden Funktion in einem großen Büro. Trotz des verheerenden Zustandes ihrer Wohnung schaffte es die Angestellte, den äußeren Schein in ihrem Beruf aufrecht zu erhalten. Dazu hatte sie am Münchner Hauptbahnhof Schließfächer angemietet, in die sie sowohl ihre Schmutzwäsche deponierte als auch die saubere Kleidung für das Büro, die sie aus der Reinigung abholte. Von Wedel: "Das kam auf die Jahre gesehen sehr teuer."
Für den Pädagogen entspricht das äußere Chaos der Messies auch ihrem inneren Zustand. Die Überfrachtung der Wohnung mit Dingen steht für das permanente Gefühl der Überforderung: "Messies sammeln genau genommen weniger Dinge als Aufgaben und Projekte, von denen sie sich aber förmlich erdrückt fühlen."
Viele Betroffene wehrten sich auch gegen den Begriff der Vermüllung, denn für sie sind die angesammelten Waren keineswegs Müll, sondern sie identifizieren sich mit ihnen. "Sind meine Dinge Müll, dann bin ich auch Müll", sei dann zu hören - und gegen diese Verletzung wehren sie sich mit Abschottung der eigenen Wohnung. Doch der Zusammenhang zwischen psychischer Befindlichkeit und Wohnungschaos sei noch viel zu wenig erforscht: "Die Wissenschaften beschäftigen sich kaum mit diesen Problem", sagt von Wedel.
Lange Erfahrung mit diesem Phänomen hat der Facharzt und Psychoanalytiker Rainer Rehberger, Autor von mehreren Büchern zum Messie-Syndrom. Für ihn liegen dessen Ursachen in einer übermäßigen erzieherischen Strenge mit Zwang und Gewalt in der frühen Kindheit.
Wissenschaftlich untersucht wurde das Messie-Syndrom 2012 an der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg. Das Ergebnis der Studie: Häufig seien die Betroffenen in der Kindheit Gewalt, Zwang und starkem Druck ausgesetzt gewesen.
Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland im selbst erzeugten Chaos leben, gibt es nicht. Via Messie-Telefon verhindert der Münchner Verein "H-Team" jährlich rund 100 Wohnungskündigungen wegen Verwahrlosung - der zweithäufigste Kündigungsgrund nach Mietschulden. Auf der Grundlage dieser Erfahrung schätzt er die ungefähre Zahl bundesweit Betroffener: "Rund zwei Millionen halte ich für möglich", sagt von Wedel.
Und der Fachmann sieht eine wachsende Tendenz. Denn "der Leistungsdruck hat in den vergangenen 20 Jahren zugenommen". Hinzu komme, dass tragfähige Bindungen schwänden.