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"Gesetz ändert Maßregelvollzug nicht wirklich"




Tillmann Hollweg
epd-bild/Iris Wolf/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL)
Die Bundesregierung will den Maßregelvollzug umgestalten. Tilmann Hollweg vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat Zweifel, dass der vorgelegte Gesetzentwurf tatsächlich zum Ziel führt.

Tilmann Hollweg ist Maßregelvollzugsdezernent des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und verantwortlich für einen der bundesweit größten forensischen Klinikträger mit rund 1.300 Patienten. Wo bei dem vorgelegten Referentenentwurf die Probleme liegen, erklärt er im Gespräch mit Dirk Baas.

epd sozial: Ein Ziel der von der Bundesregierung angestrebten Reform soll sein, den Maßregelvollzug auf gravierende Fälle zu beschränken. Ist das praktikabel?

Tilmann Hollweg: Im Schnitt entlassen Gerichte Patienten nach acht Jahren aus dem Maßregelvollzug. Bundesweit ist etwa jeder vierte Patient sogar länger als zehn Jahre untergebracht, in Einzelfällen sogar Jahrzehnte. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass nur gravierende Fälle in den Maßregelvollzug kommen.

epd: Wie sieht also die Zukunft aus?

Hollweg: Eine wirkliche Veränderung der bisherigen Praxis wird die Novellierung nicht bewirken. Der Grund: Auch nach gegenwärtiger Rechtsprechung ist eine Maßregelvollzugsunterbringung ohnehin nur dann gerechtfertigt, wenn die zu erwartende Tat zumindest in den Bereich der mittleren Kriminalität hineinreicht. Bagatelldelikte dürfen auch heute schon grundsätzlich nicht zu einer Unterbringung in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus führen. Bundesweite Untersuchungen zeigen zudem: Deutlich über 90 Prozent der gemäß § 63 StGB Untergebrachten haben schwere bis schwerste Straftaten begangen, unter anderem Straftaten gegen das Leben, Sexualdelikte, Körperverletzungen, Brandstiftungen und Raub.

epd: Offenbar werden immer mehr Menschen in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Und sie bleiben dort auch immer länger? Haben Sie dafür eine Erklärung?

Hollweg: Seit den 1990er Jahren haben sich die Patientenzahlen verdreifacht. Das ist zum Teil durch gesetzliche Veränderungen gegen Ende jenes Jahrzehnts begründet. Aber auch die gesellschaftliche Akzeptanz und die veränderten Einstellungen der Bevölkerung zu psychisch kranken Straftätern spielen eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle.

epd: Das heißt?

Hollweg: Die mediale Aufmerksamkeit, die zumeist spektakulären Einzelfällen zuteilwird, hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Praxis des Maßregelvollzuges. So wurden zum Beispiel die zuständigen Strafvollstreckungskammern der Gerichte, beraten durch Gutachter und Klinikleitungen, bis vor wenigen Jahren zusehends vorsichtiger, eine Entlassung auszusprechen. In diesem hochsensiblen Spannungsfeld zwischen Besserungs- und Therapieauftrag einerseits und gesellschaftlichen Sicherheitsansprüchen andererseits bewegt sich nicht nur die Praxis des Maßregelvollzuges, sondern auch die Gesetzgebung.

epd: Künftig soll eine Unterbringung über eine Dauer von sechs Jahren hinaus nur noch unter eng gefassten Bedingungen erlaubt sein. Heißt das, dass dann viele seelisch kranke Täter doch entlassen werden müssen?

Hollweg: Nach sechs Jahren Unterbringung soll ein mutmaßlicher Rückfall mit einem angenommenen rein wirtschaftlichen Schaden in Zukunft nicht mehr ausreichen, um jemanden weiter im Maßregelvollzug zu behalten. Bei mehr als zehn Jahren Unterbringungsdauer müssen künftig konkrete Hinweise auf eine weiterhin große Gefahr einer schweren körperlichen oder seelischen Schädigung Dritter da sein, um den Patienten nicht zu entlassen. Mit Letzterem ist eine Angleichung an entsprechende Vorschriften zur Sicherungsverwahrung vorgesehen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen, weil die bisherige Benachteiligung von psychisch kranken Rechtsbrechern gegenüber normalen Strafgefangenen aufgehoben wird.

epd: Aber Rückfälle sind doch auch in Zukunft nie sicher auszuschließen.

Hollweg: Richtig. Der Gesetzgeber sollte deshalb klar benennen, dass die geplanten Neuregelungen im Einzelfall die Maßregelvollzugsverantwortlichen in das Dilemma bringen können, Patienten zu entlassen, die rückfallgefährdet beziehungsweise noch gefährlich sind. Natürlich werden die Verantwortlichen versuchen, für diese Patienten Heime oder betreute Wohneinrichtungen zu finden, damit sie weiterhin praktische Hilfen und therapeutische Unterstützung erfahren. Allerdings: Kein entlassener Patient muss mehr den Empfehlungen der Klinik folgen.

epd: Die Bundesregierung will die "prozessualen Sicherungen zur Vermeidung unverhältnismäßig langer Unterbringungen" ausbauen. Was ist damit gemeint und was liegt hier noch im Argen?

Hollweg: Mit der sogenannten prozessualen Sicherung sind häufigere externe Begutachtungen in kürzeren Zeitabständen gemeint. Bislang sind diese externen, das heißt noch nicht mit dem jeweiligen Patienten befasste Gutachter, bundeseinheitlich alle fünf Jahre vorgeschrieben. Zukünftig werden externe Sachverständige in den ersten sechs Jahren der Unterbringung alle drei Jahre, danach alle zwei Jahre durch das Gericht mit einem Gutachten beauftragt. Geklärt werden soll, ob ein Patient gefährlich ist oder eben nicht und folglich entlassen werden kann oder eben nicht.

epd: Auch die Gutachter stehen im Fokus des Gesetzentwurfes. Zweimal hintereinander darf derselbe Gutachter nicht mehr eingesetzt werden. Spricht da Misstrauen aus dieser Regelung?

Hollweg: Ob unverhältnismäßig lange Unterbringungszeiten mittels häufigerer Begutachtungen vermieden werden können, darf bezweifelt werden. Denn Erfahrungen aus Bundesländern, die häufigere externe Begutachtungen landesgesetzlich schon vorgeschrieben haben, belegen eher, dass Patienten länger statt kürzer im Maßregelvollzug bleiben. Gutachter sind meines Erachtens zu Unrecht in Misskredit gekommen. Mal stehen hauptsächlich sie am Pranger, wenn jemand rückfällig wird, nicht aber die anderen Entlassungsverantwortlichen. Dann wieder werden die Gutachter kritisiert, wenn sie angeblich zu vorsichtig mit positiven Entlassempfehlungen sind. Ob aber jemand rückfällig wird, hängt neben seinem Behandlungsfortschritt auch von situativen Faktoren des zukünftigen Entlassumfeldes ab, zum Beispiel davon, ob der entlassene Patient seinen Arbeitsplatz behält oder ob ihn die Partnerin verlässt. So etwas kann niemand mit letzter Gewissheit vorhersagen - auch ein Gutachter nicht.


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