Ausgabe 10/2016 - 11.03.2016
Berlin (epd). Marlies Hübner hat ihre Erfahrungen in einem erzählerischen Sachbuch verarbeitet. "Verstörungstheorien - Die Memoiren einer Autistin, gefunden in der Badewanne" ist am 7. März im Berliner Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf erschienen. Wenke Böhm sprach mit Hübner.
epd sozial: Frau Hübner, Autisten berichten vom Phänomen des "Overload". Wie erleben Sie das?
Marlies Hübner: Versuchen Sie sich vorzustellen, dass Sie keine Reize filtern können, dass ihr Gehirn alles permanent wahrnimmt. Wenn dann noch Stress dazu kommt, dann kann es zu einer völligen Reizüberflutung kommen. Das ist, als ob sich ihr Computer aufhängt. Dann kommt es zum "Meltdown", sprich: Man weiß sich nicht mehr anders zu helfen als auch mal wütend zu werden. Wenn das nicht funktioniert, fällt man in einen "Shutdown". Ich kann dann nicht mehr sprechen. Es geht einfach nicht mehr. So was hat man relativ häufig.
epd: Wie ist es dann mit großen Gruppen, Partys, Einkauf?
Hübner: Wenn möglich vermeiden! Der Segen für alleinlebende Autisten ist der Lebensmittel-Lieferservice. Ich gehe privat gern auf Konzerte oder in Museen, aber das funktioniert nicht jeden Monat. Man ist danach lange ziemlich erschöpft. Letztes Jahr wollte ich ins Kino gehen und bin aus Versehen in die Parade des "Christopher-Street-Day" geraten. Das war die Hölle. Alle meine Sinne sind vollkommen offen. Ich kann keine Dinge ausblenden, das ist wahnsinnig anstrengend. Ich war dann nicht im Kino.
epd: Gegen welche Vorurteile kämpfen sie als Autistin?
Hübner: Zum einen kommen Leute in der Regel nicht damit klar, dass man vielen Autisten einfach nichts ansieht, gerade uns hochfunktionalen. Dann hängen ganz viele auf diesem Rain-Man-Klischee fest. Die Figur in dem Oscarfilm war nie ein Autist. Wir sind auch nicht alle hyperintelligent oder haben alle Lernschwierigkeiten. Manche sprechen, andere sprechen nicht. Manche leben selbstständig, andere wieder nicht. Diese extreme Vielfalt, das große Spektrum, ist für viele nicht begreifbar. Man kann nichts pauschalisieren.
epd: Was sind denn Kriterien, nach denen Menschen in das autistische Spektrum einsortiert werden?
Hübner: Da sind zum einem die sozialen Probleme, große Schwierigkeiten im Aufbau und Erhalt von Sozialkontakten. Dann sind es Routinen. Tage haben eine bestimmte Struktur, Dinge laufen immer gleich ab. Es kann schwierig werden, wenn diese Routinen wegbrechen. Außerdem die Kommunikationsprobleme. Ich verstehe bis heute nicht, warum es anderen Menschen so unfassbar wichtig ist, dass Autisten Augenkontakt aufnehmen.
epd: Wie machen sich die Kommunikationsprobleme bemerkbar?
Hübner: Wir kommunizieren fast ausschließlich auf der reinen Informationsebene. Sprachliche Spielereien, Körpersprache und Mimik fallen hinten runter. Viele Autisten haben eine Gesichtsblindheit. Manche Leute sind furchtbar enttäuscht oder beleidigt, wenn man sie auf der Straße nicht wiedererkennt. Man bekommt gern Böswilligkeit oder Ignoranz unterstellt. Dabei ist es so gut wie unmöglich für mich, jemanden wiederzuerkennen, der keine auffällige Frisur oder besondere Brille hat. Mein Partner trägt zum Beispiel eine sehr markante Brille und einen Bart, den erkenne ich wieder. Das ist praktisch. Ich laufe ungern mit jemand anderem mit.
epd: Was hat dazu geführt, dass Sie sich haben testen lassen?
Hübner: Die Diagnose habe ich mit 27 Jahren erhalten, nachdem ich über Jahre hinweg massiv versucht hatte, mich anzupassen. Damals hat mir ein Freund gesagt: "Du wirkst unfassbar autistisch. Wann hast du denn deine Diagnose bekommen?" Ich meinte: "Nee, sicher nicht." Anderthalb Jahre später war ich mit meinen Kräften so am Ende, dass ich in die Diagnostik gegangen bin. Über das Ergebnis freut man sich natürlich nicht, aber ich habe erkannt, dass ich die Möglichkeit habe, mein Leben daran anzupassen.
epd: Wie unterscheiden Sie sich von ihrer Buch-Protagonistin Elisabeth?
Hübner: Ich habe Teile aus meinem Leben genommen, habe aber auch viel hinzugefügt, verschmolzen und dazuerfunden, um das Bild zu erweitern. Elisabeth ist ein Teil von mir, aber ich bin nicht Elisabeth. Sie ist konsequenter als ich, zumindest zum Ende hin. Es ist kein negatives Buch. Sie macht eine durchaus positive Entwicklung durch.
epd: Was würden wie sich von ihrem Umfeld und von der Politik wünschen?
Hübner: Generell halte ich es für dringend notwendig, dass Menschen mit einer Behinderung nicht als Zweite-Klasse-Menschen wahrgenommen werden. Bei der Inklusion wird versucht, uns in ein Schema zu pressen. Man sollte Autisten einfach autistisch sein lassen. Wenn man sie zwingt, sich wie die Mehrheit zu verhalten, beraubt man sie ihrer Persönlichkeit. Man muss uns zuhören. Daran hapert es. Große Verbände sprechen für und über Autisten, aber nicht mit ihnen. Es werden traumatisierende, missbräuchliche Therapien angewandt, um autistische Kinder so neurotypisch wie möglich erscheinen zu lassen. Letztlich geht es aber darum, sie zu brechen. Es ist wirklich kein Spaß, autistisch zu sein.