Ausgabe 10/2016 - 11.03.2016
Eichstätt (epd). Die Diskussion über kirchliche Arbeitsbedingungen hat in den letzten Jahren - sicher vorrangig bedingt durch die Auseinandersetzung über den „Dritten Weg“ - die Betonung auf das Attribut kirchlich gelegt. Hätte die Diskussion hingegen mehr die Arbeitsbedingungen an sich differenziert diagnostiziert, so hätte das erhellend deutlich gemacht, dass sich kirchliche Arbeitsbedingungen jenseits der Frage des kirchlichen Arbeitsrechts, in nichts von den Rahmenbedingungen, Trends und Dynamiken am bundesdeutschen Arbeitsmarkt insgesamt unterscheiden. Die Kritik an manchen Entwicklungen des Arbeitsmarktes, also der Trend zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, zur Verdichtung von Arbeit, zur Armut in Arbeit, zur Verschärfung sozialer Ungleichheit ist zwar immer wieder auch von sozialethisch engagierten Kirchenleuten angeprangert worden. Dies geschah aber weniger unter dem Fokus, dass sich diese Phänomene nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb kirchlicher Arbeitsbedingungen aufweisen lassen.
Mit anderen Worten: Unter Betrachtung der kirchlichen Arbeitsbedingungen lässt sich eine Licht-Dunkel-Typologie, also die Gegenüberstellung von säkularem Schattenleben und kirchlichem Lichtglanz, sicher nicht legitimieren. Das ist kein Vorwurf gegenüber Kirche, Diakonie und Caritas. Es ist nicht die moralin gefärbte Anklage kirchlicher Anstellungsträger, sondern es ist nur ein Hinweis darauf, dass die Dynamiken am Arbeitsmarkt insgesamt keinen Raum aussparen. Es gibt hier zunächst einmal kein kirchliches Entrinnen.
Die Dynamiken der Arbeitsbedingungen sind geprägt von einer insgesamt angebotsorientierten Beschäftigungspolitik, die sich erstens durch die politische Förderung und Akzeptanz einer Niedriglohnstruktur auszeichnet, die zweitens die Ressourcen der Arbeitskräfte verdichtet ausschöpft, die drittens die soziale Sicherungsfunktion von Erwerbsarbeit zunehmend schwächt und die viertens den Arbeitsmarkt in Verlierer und Gewinner spaltet.
Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten, also derer, die einen Stundenlohn haben, der unter zwei Drittel des Median liegt, ist im Zeitraum von 1995 bis 2012 auf 8,4 Millionen gestiegen, was einer Steigerung um 42 Prozent entspricht. Fast unvermindert konstant liegt seit Jahren ihr Anteil an allen Beschäftigten bei fast 25 Prozent.
Über 2,6 Millionen Beschäftigte ergänzten 2013, also bereits in einer bejubelten Hochphase der Arbeitsmarktkonjunktur, ihren Verdienst durch einen Zweitjob, weil ein Job alleine finanziell nicht auskömmlich ist. Zu ergänzen ist der Hinweis auf die Zahl der sogenannten „Aufstocker“, also derer, die zusätzlich zu ihrem Job angewiesen sind auf ergänzende Leistungen nach dem Hartz-IV-Regelsatz. Diese Gruppe macht inzwischen gut 30 Prozent aller Leistungsbezieher aus.
Arbeit, so war es einst gedacht, soll nicht nur der Sicherung des Lebensunterhalts in der Phase der Erwerbstätigkeit dienen, sondern auch der Zukunftssicherung bezogen auf das Leben nach der Arbeit, dem Ruhestand. Der jüngste Armutsbericht des Paritätischen zeigt jedoch alarmierend auf, dass zwischen 2011 und 2014 die Zahl der Menschen, die auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen sind, um fast 20 Prozent auf über eine Millionen angestiegen ist. Die Altersarmut wird eines der gravierendsten sozialpolitischen Themen der Zukunft sein - und diese Zukunft ist schon angebrochen.
Eine Dynamik am Arbeitsmarkt ist besonders zu erwähnen. Sie betrifft das abfallende Lohnniveau der Neuzugänge auf den Arbeitsmarkt, das ein Beleg ist für einen deutlichen Wandel der Lohn- und Beschäftigungskultur in Deutschland. So sind die Medianlöhne bei Männern in neuen Beschäftigungsverhältnissen seit 2001 innerhalb von nur fünf Jahren um zwölf Prozent gesunken, bei Frauen um acht Prozent. Es tritt ein Prozess der Dualisierung des Arbeitsmarktes ein, der die Spaltung zwischen den bereits längerfristig Beschäftigten und den neu hinzukommenden betrifft. Das bezieht sich nicht nur auf das Lohnniveau, sondern auch auf Art und Qualität der Beschäftigungsverhältnisse. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge ist ebenso angewachsen wie die der Leiharbeit, überwiegend bei „Neueinsteigern“ oder bei Menschen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus einen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben vollzogen haben.
Die überwiegend personennahen Dienstleistungen in Kirche, Diakonie und Caritas unterliegen im Grundsatz denselben Dynamiken der „säkularen“ Arbeitsverhältnisse. Allerdings werden sie noch durch weitere Faktoren geprägt. So fällt die Lohnstruktur kirchlicher Arbeitsverhältnisse nach oben wie nach unten keineswegs so gespreizt aus, wie das in manchen gewerblichen Branchen üblich ist. Geht man von der klassischen und im europäischen Kontext üblichen Definition der Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent des Medien, also des mittleren Lohnes aus, so liegt je nach Datenbasis dieser Schwelle bei 9,50 Euro. Schaut man sich die ausgehandelten Entgelttabellen beispielsweise der Arbeitsrechtlichen Kommission Rheinland-Westfalen-Lippe und der Bundeskommission für die Arbeitsvertragsrichtlinien an, so muss man bilanzieren, dass selbst in den untersten Lohngruppen, etwa bei Hilfstätigkeiten in der Altenhilfe oder im hauswirtschaftlichen Bereich, diese Marke schon bei Berufseinsteintritt überschritten wird.
Sie liegen bei etwas über 10 Euro. Es ist nicht ausschließen, dass andere Regelungen in Einzelfällen hier und da praktiziert werden. Aber im Grundsatz ist entgegen mancher Vorwürfe deutlich zu sagen, dass es im Rahmen kirchlicher Arbeitsrechtssetzung keine Niedriglohnstruktur gibt. Auch die Lohnspreizung nach oben, also zwischen einer Hilfskraft im hauswirtschaftlichen Bereich und der Geschäftsführung einer Einrichtung, liegt in einem Rahmen, der nicht vergleichbar ist mit der Lohnspreizung privatwirtschaftlicher Branchen.
Andererseits kann nicht die Rede davon sein, dass die Entgeltregelungen kirchlicher Arbeitsverhältnisse durch Angebot und Nachfrage des Marktes geregelt werden. Wenn Unternehmen etwa für Ingenieure, Datenbankadministratorinnen, Physikerinnen oder Betriebswirte je nach Fachkräftebedarf über die Gehaltsstruktur, über Bonuszahlungen oder weitere attraktive Bestandteile und Rahmenbedingungen des Anstellungsverhältnisses dem Mangel an Fachkräften kompensatorisch entgegenwirken können, so gilt diese Möglichkeit für kirchliche Arbeitsverhältnisse weitgehend nicht. Dem Mangel an Pflegekräften durch entsprechend attraktivere Vergütungen zu begegnen, ist im System der Refinanzierung durch Kranken- und Pflegekassen keine wirklich praktikable Variante.
In Kirche, Diakonie und Caritas liegt der Anteil der Lohnkosten an der Gesamtbilanz in der Regel über 80, nicht selten bei über 90 Prozent. Die betriebswirtschaftliche Steuerung in einigermaßen sicheres Fahrwasser gelingt nur über eine zeitnahe Personalsteuerung, die Schwankungen in der Belegung beispielsweise in der stationären Altenhilfe oder im Krankenhaus durch eine möglichst flexible Gestaltung des Personaleinsatzes kompensiert. Hinzu kommt, dass schwarze Zahlen oftmals nur geschrieben werden können, wenn die Auslastung der verfügbaren Betten oder Plätze bei deutlich über 90 Prozent liegt. Die daraus resultierenden Effekte sind u.a. die Ausgründung von Hauswirtschafts- und Cateringdienstleistung in gewerbliche Betriebe mit einer günstigeren Tarifbindung, die Verzögerung von Wiederbesetzungen frei gewordener Stellen, der flexible Einsatz von geringfügig Beschäftigten oder Teilzeitkräften als Springer beispielsweise in der ambulanten Pflege, Zeitkontenbewirtschaftung auf zum Teil hohem Niveau und gelegentlich auch Kurzarbeit.
Loyalität von Beschäftigten wird in allen Branchen erwartet, und der Verweis darauf ist teilweise Bestandteil des Arbeitsvertrages. Bei personennahen Dienstleistungen, ob in den Kitas, der Alten- oder Behindertenhilfe, ob in der Betreuungsarbeit oder den Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften baut sich aber eine weitere, strak intrinsisch motivierte Loyalität auf, die nicht hoch genug einzuschätzen ist. Die Mitarbeitenden sind zusätzlich zur Betriebsloyalität oftmals sehr empathisch, einfühlsam und loyal verbunden mit ihrer Klientel, also mit den Menschen, mit und für die sie arbeiten, oft auch erweitert um deren Angehörige.
Die personale Bindung an die Menschen, die es zu begleiten, zu pflegen, zu betreuen oder zu erziehen gilt, ist einerseits der Grund für die große Erfüllung, die soziale Dienstleistungen bergen und die die Mitarbeitenden hoch motiviert, ihre Arbeit zu versehen. Andererseits sind es aber gerade diese Bindungen, die Mitarbeitende auch in abwägende Konflikte führt, wenn Rahmenbedingungen und Betriebsabläufe drohen, die betroffene Klientel zu belasten. Es kommt nicht selten vor, dass Teilzeitkräfte in der Pflege aus Not an Personal erhebliche Überstunden leisten, die letztlich mit hohen Steuerabgaben versehen ausgezahlt, statt in Freizeitausgleich abgebaut werden.
Unterbesetzungen auf Stationen der Altenhilfe, in den Krankenhäusern oder in Kitagruppen werden irgendwie „durchgezogen“, Anforderungen an flexiblen und nur kurzfristig angefragten Arbeitseinsatz werden um der Betroffenen willen, erfüllt. Man muss deutlich resümieren, dass sich in vielen sozialen Berufsfeldern die Anforderungen an die Mitarbeitenden erhöht haben.
Menschliche Zuwendung in Pflege, Betreuung und Begleitung, in Bildung und Erziehung, in Beratung und Lebensorientierung hat meines Erachtens eine theologische Dignität in sich. Es ist ein theologisches Missverständnis, das da teilweise mit bornierten Untertönen zu Worte kommt, wenn man meint, dass das „Anderssein“ als andere (gemeint sind Beschäftigte in säkularen Sozialunternehmen) ein Wert an sich sei. Die Fragestellung wird sich allerdings möglicherweise noch verschärfen, denn schon längst kann nicht vorausgesetzt werden, dass die Mitarbeitenden der sozialen Berufe in kirchlichen Arbeitsverhältnissen allesamt christlich sozialisiert sind oder überhaupt einer Kirche angehören. Die Problematik des Fachkräftemangels insbesondere in der Pflege wird hier zu großen Veränderungen führen.
Bei der Fachkräfterekrutierung haben Kirche, Diakonie und Caritas eindeutige finanzielle Wettbewerbsnachteile. Die ordnungspolitische Einsicht, dass Fachkräfte in Erziehung, Bildung und Pflege benötigt werden, steht in Konkurrenz zum Einsparungsdruck der öffentlichen Hand und damit der Kostenträger.
Mit aller statistischen Nüchternheit bilanziert das Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ das demografische Szenario 2030 auch mit Blick auf die Anzahl der Kirchenmitglieder. Danach wird sich die Zahl der evangelischen Christinnen und Christen bis 2030 von ehemals 27 Millionen (Stand 2003) auf gut 17 Millionen reduzieren, unter 20 Jahren werden nur noch 2,6 Millionen evangelische Bundesbürger sein, das sind noch gut drei Prozent der Bevölkerung.
Eine gewisse gegenläufige Entwicklung ist in der Diakonie zu verzeichnen, insbesondere durch die Bedarfe im Bereich der Altenhilfe wird die Zahl der Mitarbeitenden wachsen, von jetzt gut 450.000 auf eher 500.000, wenn auch die Zahl der evangelisch oder kirchlich gebundenen Mitarbeitenden eher sinken wird. Die Gefahr, dass sich die Auseinandersetzung zwischen einer an Gewicht verlierenden Kirche und einer wachsenden, aber säkularer werdenden Diakonie verschärft, ist nicht von der Hand zu weisen.
Es ist unmissverständlich klar, dass wir in der Pflege auf eine gravierenden Fachkräftemangel zulaufen. Es ist eine Gegensteuerung durch politische Mobilisierung aller verbundenen Interessengruppen erforderlich (u.a. Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften), die sowohl die Ursachen der sozialen Misere als auch die drohende Misere der sozialen Berufe angeht. Die sozialstaatliche Konstitution und Konsistenz ist fragil geworden.
Es ist dringend erforderlich, dass wir eine präventive Sozialpolitik betreiben, die sich offensiv um die Rekrutierung sozialer Berufsträger bemüht, die mehr Anreize schafft, sich darauf einzulassen, dieser doch im Grunde sehr sinnstiftenden Arbeit nachzugehen. Die enorme Werthaftigkeit, die die Tätigkeiten in Bildung, Erziehung, Beratung, Betreuung und Pflege für unsere Gesellschaft haben, muss sich auch in einer Anerkennung spiegeln, die sich darin erweist, dass die Entgelte, die personelle Ressourcenausstattung und die Qualität der Arbeitsbedingungen verbessert werden. Die Ursachen der sozialen Misere dürfen nicht um eine drohende Misere der sozialen Berufe ergänzt werden.