Ausgerechnet Erich Honecker hatte offenbar wenig gegen eine Wiedervereinigung. Freilich nicht in der Art, wie sie sich letztlich vollzog. Ihm habe so etwas vorgeschwebt wie das Modell "Ein Land, zwei Systeme". So erinnert sich Oskar Lafontaine. "Die DDR wäre dann erst einmal DDR geblieben und die BRD die BRD", sagt der Vorsitzende der Fraktion der Linken im saarländischen Landtag und ehemalige Bundesvorsitzende der Linkspartei, "aber die DDR hätte sich dann Schritt für Schritt transformiert."

Honecker, der vor 50 Jahren an die Spitze von SED und DDR trat, gilt heute als der Mann, der die DDR taten- und ideenlos untergehen ließ. Aber der Honecker-Biograf Martin Sabrow, Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, glaubt das nicht. Honecker habe "noch eine Karte im Spiel" geglaubt, erklärt Sabrow: ein Wahlsieg das damaligen SPD-Manns Lafontaine über den CDU-Kanzler Helmut Kohl - wonach es in den Umfragen lange aussah. Mit dem neuen Kanzler, so Honeckers vage Hoffnung, hätte er dann eine Föderation von BRD und DDR anstreben können.

Der Kontakt zum Saarland

Schon seit Mitte der 1980er Jahre waren Honecker und Lafontaine, damals SPD-Ministerpräsident des Saarlands, im Gespräch gewesen. "Er war ja auch Saarländer, das hat vieles erleichtert", erzählt Lafontaine. Zunächst sei es darum gegangen, dass die DDR Stahl und Wein von der Saar kaufte, später um Städtepartnerschaften, Kultur-, Sport- und Jugendaustausch sowie um Familienzusammenführungen. Das habe auch gut geklappt. Später sei es darum gegangen, wie es nach der Bundestagswahl 1990 hätte weitergehen können. Allzu konkret seien die Gespräche aber nicht gewesen, sagt Lafontaine: "Es gab da keinen Vertrag zwischen uns oder so etwas." Insbesondere die Frage, wie die DDR gestützt werden könne, bis sie sich transformiert habe, sei kein Thema gewesen.

Am 3. Mai 1971 hatte das Zentralkomitee der SED Walter Ulbricht von seinem Amt als Erster Sekretär entbunden. Honecker wurde der neue starke Mann der DDR - und das weckte bei den Menschen dort Hoffnungen. "Honecker verkörperte so etwas wie jugendliche Begeisterung", sagt der Historiker Sabrow. Nicht nur deshalb, weil er als Gründungsvorsitzender die staatliche Jugendorganisation "Freie deutsche Jugend" (FDJ) geleitet hatte. Der neue Mann versprach soziale Wohltaten und mehr Wohnungen. Er sorgte dafür, dass die jungen DDR-Bürger Jeans kaufen konnten. Ein bisschen Liberalisierung leuchtete schwach am Horizont. Ulbricht hatte zum Beispiel Westfernsehen strikt abgelehnt. Honecker hingegen bemerkte achselzuckend: "Das kann bei uns jeder ein- und ausschalten."

Aber ebenso wenig wie Honecker am Ende seiner Amtszeit ein untätiger Greis war, war er zu Beginn ein Hoffnungsträger. Ulbricht hatte schon erfahren, dass Honecker nicht der liebe Genosse Erich war, sondern eine eiserne Faust besaß. Denn der Kreml hatte Ulbricht auch auf Betreiben Honeckers fallengelassen. Ulbricht habe die DDR für den Geschmack Moskaus zu eigenständig machen wollen, vor allem der Außen- und Deutschlandpolitik, erläutert Ilko-Sascha Kowalzcuk, Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin. Honecker habe also gar nicht für Aufbruch gestanden, sondern für Starre, sagt er: "Ulbricht war der Reformer, Ziehsohn Honecker der Ausbremser und Reaktionär."

Auf Protest folgt Repression

So zerstoben die Hoffnungen bald. "Die Symbole des Aufbruchs zerbröckeln 1976 und 1977", sagt Sabrow. Bei mehreren Gelegenheiten wurde klar, dass die Liberalisierung für Honecker enge Grenzen hatte. Im August 1976 verbrannte sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz auf offener Straße in Zeitz. Im November desselben Jahres ließ die DDR den Liedermacher Wolf Biermann nach einer Konzertreise in die Bundesrepublik nicht mehr ins Land. Und im September 1977 veröffentlichte ein bislang wenig bekannter SED-Funktionär namens Rudolf Bahro ein Buch namens "Die Alternative", in der er mit dem praktizierten Sozialismus abrechnete.

In allen Fällen berichteten Westmedien breit, und insbesondere für Biermann machten sich viele Intellektuelle der DDR öffentlich stark. In der Folge verschärften die Sicherheitsbehörden die Repression - aber nicht so brachial wie noch unter Ulbricht. "Die Verfolgung wurde verborgener, ausgefeilter", beschreibt Sabrow die Situation.

"Die Realität Honeckers war die einer 'gated community'"

Honecker lebte abgeschottet in der Siedlung Wandlitz bei Berlin. Die allgegenwärtige Knappheit, unter der seine Untertanen zu leiden hatten, schien er gar nicht wahrzunehmen. "Die Realität Honeckers war natürlich die einer 'gated community'", sagt Sabrow. Der Historiker glaubt aber nicht, dass Honecker - wie mitunter behauptet - in seiner Parallelwelt nichts von der dramatischen Lage mitbekommen habe: "Die Politikerkaste war sehr gut informiert." Honecker hatte Vorschläge vom Chef der Staatlichen Plankommission vorliegen, wonach die DDR den Lebensstandard um 30 Prozent senken müsse, um nicht auf längere Frist zahlungsunfähig zu werden. Solche Pläne fegte er aber vom Tisch und sagte, er wolle so etwas nie wieder hören.

Die Idee einer Föderation von BRD und DDR erledigte sich, weil dem ostdeutschen Staat viel weniger Zeit blieb, als Honecker - oder die allermeisten anderen Menschen damals - sich vorstellen konnten. Wie aussichtsreich diese Idee gewesen sein mag, hätte die DDR länger bestanden, ist dem Forscher Sabrow zufolge schwer zu bewerten: "Rückblickend scheint sie absurd, für Honecker mochte sie eine ernsthafte Zukunftsoption dargestellt haben." Auch Oskar Lafontaine hält sich mit einem Urteil über die Verwirklichungschancen lieber zurück, gibt aber zu bedenken, dass sie die Fortsetzung einer Politik gewesen wäre, die bereits funktionierte: "Das war nicht nur eine spinnerte Utopie."