Berlin (epd). Über die nächsten Monate im Schatten der Corona-Pandemie macht sich Leonore Dreves keine Illusionen. "In einer Zeit wie dieser kümmert sich niemand um Randgruppen", sagt sie: "Da müssen wir sehr laut schreien, damit wir gehört werden." Dreves ist von Geburt an blind. Die Softwareentwicklerin arbeitet teils im Homeoffice, teils im Büro. Doch beides hat etliche Tücken, wie sie berichtet.
Trotz voll ausgestattetem Arbeitsplatz zu Hause hatte sie mit dem wachsenden Angebot an digitalen Anwendungen zu kämpfen, vor allem im Austausch mit anderen: "Wie kann ich eine Selbsthilfegruppe moderieren, wenn ich nichts sehe?"
Der derzeitige Digitalisierungsschub droht blinde und sehbehinderte Menschen abzuhängen, warnen Experten. Das fängt im Homeoffice an: Ohne Arbeitsplatz mit Hilfsmitteln, Vorlesesoftware und einer guten Ausleuchtung können die Betroffenen nur bedingt zu Hause arbeiten. Viele Videokonferenzen und Team-Tools sind nur in Teilen oder gar nicht barrierefrei.
Online-Handel soll barrierefrei werden
Dazu kommen die privaten Lebensumstände: "Viele von uns leben allein, die sozialen Kontakte laufen über die Arbeit. Wenn das dauerhaft wegbricht, ist das tragisch", sagt Dreves.
Dabei hatte die EU die Grundlage für eine barrierefreie Digitalisierung bereits im vergangenen Jahr gelegt - mit der Barrierefreiheitsrichtlinie, dem European Accessibility Act (EAA), der bis 28. Juni 2022 in deutsches Recht gegossen sein muss. Die EU regelt darin die Anforderungen an barrierefreie Produkte und Dienstleistungen. Wie viel die Betroffenen damit gewinnen, ist jedoch offen. Für die Praxis sei in erster Linie die nationale Gesetzgebung maßgebend, nicht die EU-Richtlinie, erklärt die Bundesfachstelle Barrierefreiheit.
Unter anderem soll der Online-Handel großer Anbieter barrierefrei werden, außerdem Bankendienstleistungen, Geldautomaten und Zahlungssysteme zum Beispiel im Supermarkt, der öffentlich Nachverkehr und E-Books sowie PCs, Smartphones, Laptops und Tablets.
"Es wird darauf ankommen, wie Deutschland die Vorgaben interpretiert", sagt die Rechtsreferentin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (DBSV), Christiane Möller. "Auf europäischer Ebene hat die Wirtschaft bereits einige Lobbyarbeit geleistet, so dass leider nicht für alle Produkte und Dienstleistungen Barrierefreiheit zur Pflicht wird", bemängelt sie. Nicht einbezogen seien etwa Haushaltsgeräte.
Selbsthilfe-Organisationen unzufrieden
Unterstützung erhält der DBSV vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Schule und Beruf (DVBS). Beide Verbände fordern die Regierung auf, über die EU-Richtlinie hinauszugehen und Unternehmen zu verpflichten, beispielsweise beruflich genutzte Computer oder Geschäftskonten ebenfalls barrierefrei anzubieten. Außerdem müsse geklärt werden, was der Begriff Barrierefreiheit konkret bedeutet, erklärt die DVBS-Vorsitzende Ursula Weber.
Von der Bundesregierung sei bislang zu dem Thema nichts zu hören, kritisiert der inklusionspolitische Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, Sören Pellmann. Die Umsetzung der vorherigen EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit bei öffentlichen Stellen sei so spät erfolgt, dass jetzt "nichts Gutes zu erwarten ist". "Inakzeptabel" sei im Rückblick die Beteiligung der Selbsthilfe-Organisationen. Diese hätten nur knapp eine Woche Zeit erhalten, um auf den Referentenentwurf zu reagieren. Zudem müsse Barrierefreiheit unter anderem für den ganzen öffentlichen Verkehr gelten, auch im Tourismus, forderte er.
Die Grünen halten der Bundesregierung vor, sie verkenne das Innovationspotenzial von barrierefreien Angeboten. Die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Corinna Rüffer, verlangt, dass das nationale Gesetz über die Mindestanforderungen der EU-Richtlinie hinausgehen und die Privatwirtschaft umfassend zu Barrierefreiheit verpflichten müsse.
Grundsätzlich bewertet Christiane Möller vom DBSV die Digitalisierung als Chance für blinde und sehbehinderte Menschen. Durch Vergrößerungssoftware, Apps, die Texte in Braille-Blindenschrift übersetzen, oder eine automatisierte Sprachausgabe sei für die Betroffenen schon jetzt mehr Teilhabe möglich. "Diese Vorteile können wir aber nur nutzen, wenn Webseiten, Apps und Bedienoberflächen barrierefrei programmiert sind."