Der schweigende Angeklagte zeigt Emotionen: Als Stephan E. das Video seines ersten Geständnisses sieht, kommen ihm im Gerichtssaal erneut die Tränen. Eine Unterbrechung der Verhandlung am 18. Juni lehnt der Angeklagte kopfschüttelnd ab. Bundesanwalt Dieter Killmer reicht ein Taschentuch, und nach einem kurzen Durchatmen geht es weiter. Das Video ist das erste Beweismittel im Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main. Darin schildert E. unter anderem detailliert den Tathergang sowie dessen Vorgeschichte. Im Prozess selbst hat sich E. bislang nicht geäußert.

Geständnis widerrufen

Aufgezeichnet wurde das Video in einer polizeilichen Befragung am 25. Juni 2019 - zehn Tage nach E.s Verhaftung. Rund eine Woche später widerrief er jedoch das Geständnis. Später belastete er den Mitangeklagten Markus H., den tödlichen Schuss auf Lübcke versehentlich abgegeben zu haben. H. ist allerdings nur wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Beide sollen nach Auffassung der Bundesanwaltschaft aus rechtsradikaler, fremdenfeindlicher Gesinnung gehandelt haben.

In dem Video erzählt E. - immer wieder von Weinen unterbrochen - über den Zeitraum von 2010 bis zur Tat. Nach vielen Jahren in der rechtsextremen Szene und mehreren Verurteilungen habe er versucht, sich aus dem Milieu zu verabschieden und ein bürgerliches Leben mit Frau, seinen beiden Kindern und einem geregelten Beruf zu führen.

Doch Themen wie Überfremdung und Ausländerkriminalität hätten ihn nicht losgelassen. Auf der Arbeit habe er dann seinen früheren Weggefährten Markus H. wiedergetroffen. Mit H. habe er an gemeinsamen Schießübungen teilgenommen. Zudem verkauften beide illegal Waffen.

Bürgerversammlung im Herbst 2015

Mit der Flüchtlingskrise 2015 habe er dann zunehmend Ängste bekommen, dass Deutschland mit Ausländern überflutet werde. Lübcke geriet ins Visier, als er bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel im Herbst 2015 sprach, bei der es um die geplante Unterbringung von Flüchtlingen in dem Ort ging. Dort waren auch die beiden Angeklagten unter den Besuchern.

Lübcke hatte nach Worten von E. gesagt, "dass wenn Ihnen das hier nicht gefällt, wie wir das hier machen, könnt Ihr das Land verlassen". H. habe die Aussage gefilmt und das Video ins Internet gestellt. E. verließ die Veranstaltung emotional aufgewühlt: "Ich war fassungslos." Von da an habe er Lübcke auf dem Schirm gehabt: "Ich habe halt einen Hass bekommen."

Dieser Hass sei in den folgenden Jahren durch Ereignisse wie die Silvester-Übergriffe in Köln und die Terroranschläge in Frankreich weiter angefacht worden. Immer wieder habe er den Gedanken gehabt, er müsse etwas unternehmen. "Spätestens nach dem Anschlag von Nizza habe ich den Beschluss gefasst, dem Herrn Lübcke etwas anzutun."

Lübcke ausgekundschaftet

In der Folgezeit habe er den Regierungspräsidenten ausgekundschaftet, sei mehrfach zu dessen Haus in Wolfhagen-Istha gefahren, immer wieder auch mit einer Waffe. In der Nacht zum 2. Juni 2019 kam es schließlich zu der Tat, die E. minuziös schilderte. Er sei an jenem Samstagmorgen zwischen sieben und acht Uhr aufgestanden, habe gefrühstückt und dann an seinem Haus gearbeitet.

Am frühen Abend sei er in seinem Auto und mit einem Revolver in einer Umhängetasche nach Istha gefahren, habe dort bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet. Er habe schon wieder gehen wollen, als er Lübcke auf dessen Terrasse sah. "Da dachte ich: Du machst das jetzt." Er sei mit der gespannten Waffe zu Lübcke gerannt, habe auf Kopfhöhe angelegt und einen Schuss aus 1,5 bis zwei Metern Entfernung abgegeben. "Er hat meinen Schatten wahrgenommen", sagte E. über sein Opfer. Wirklich gesehen habe er ihn wohl nicht. Dann sei er zurück zu seinem Auto gegangen und nach Hause gefahren.

Bevor es am 18. Juni zur Ansicht des Videos kam, hatte die Verteidigung mehrere Befangenheitsanträge gegen den Vorsitzenden Richter Thomas Sagebiel gestellt, immer wieder die Unterbrechung der Sitzung beantragt und auch die Reihenfolge der Beweiswürdigung moniert. Als eine längere Debatte darüber entbrannte, wie der Fernseher für die Videopräsentation aufgestellt werden sollte, platzte Sagebiel der Kragen: "Wir sind doch nicht dumm", sagte er. "Das grenzt hier langsam ans Lächerliche."

Der Prozess hatte am 16. Juni begonnen. Bis Ende Oktober sind derzeit 32 Verhandlungstage vorgesehen. Der nächste Termin ist für den 30. Juni angesetzt.