"Hier ist eine Linie schöner als die andere", schwärmte Martin Noël, als er 1998 die Risse in der Pflasterung zwischen den Türmen des World Trade Centers in New York sah. Viele Stunden verbrachte der Künstler danach auf den Knien, um die Linien auf den Platten abzuzeichnen. Entstanden waren die Risse 1993 bei dem heute fast vergessenen ersten Anschlag auf das World Trade Center. 72 Zeichnungen der Platten-Risse brachte Noël aus New York mit nach Hause in sein Bonner Atelier. Daraus entstanden Linolschnitt-Serien und Buchprojekte sowie Bild-Objekte. Letztere sind nun zusammen mit insgesamt knapp großformatigen 30 Werken im Kunstmuseum Bonn zu sehen.

Den Linien auf der Spur

Mit der Ausstellung "Martin Noël. paintprintpaint" würdigt das Kunstmuseum den früh verstorbenen Künstler, der nach Ansicht von Kurator Wenzel Jacob bislang nicht die ihm zustehende Beachtung fand. Noël spiele in einer Liga mit Künstlern wie Anselm Kiefer oder Georg Baselitz und sei "eine Stimme im Konzert der Großen", betont der Gründungsdirektor der Bundeskunsthalle.

Die Schau zeichnet die nur knapp 25-jährige künstlerische Karriere Noëls nach - von seiner frühen wilden Malerei über sein druckgrafisches Werk bis zu seinen späten ungegenständlichen Gemälden. Wie ein roter Faden zieht sich die Suche nach dem Verhältnis zwischen Linie und Fläche sowie die Dialektik zwischen Körper und Entkörperung durch sein Schaffen. Auch scheinbar abstrakte Bildinhalte fußen bei Noël auf der Beobachtung seiner Umgebung oder auf kunsthistorischen Vorbildern.

Das Gemälde "Sander" von 1988 etwa basiert auf August Sanders berühmter Fotografie "Jungbauern" von 1914: Drei junge Männer in dunklen Sonntagsanzügen mit Hut. Noël zeigt nur die Beine der jungen Männer. Die fehlenden Köpfe werden durch einen durch rote Linien angedeuteten Haarschopf ersetzt, der quer durchs Bild verläuft.

Die Auseinandersetzung mit dem Bildhauer Alberto Giacometti leuchtet in durch wenige Linien angedeuteten länglichen Kopfformen durch. Die Farbfeld-Malerei Otto Freundlichs, einer der ersten Vertreter der abstrakten Kunst, löst Noël in Linien auf. Auch aus Werken Rembrandts zitiert der Maler, indem er sich einzelne Linien oder Details herausgreift und sie isoliert und stark vergrößert reproduziert. So wird etwa eine Knopfleiste zur abstrakten Figur, die auch an eine Pflanze mit Blüten erinnert.

Wiederentdeckung des Holz- und Linolschnitts

Martin Noël habe den Standpunkt vertreten, dass es alle Linien und Formen bereits gebe, sagt seine Witwe, Margarete Noël. Dennoch arbeitete er daran, aus dem Fundus des Vorhandenen etwas Eigenes zu schaffen. "Man sieht, was das für eine heftige Auseinandersetzung war", stellt Margarete Noël mit Blick auf die Bonner Ausstellung fest.

Ein wichtiger Bezugspunkt für Noël war das Werk des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner, einer der bedeutenden Erneuerer des Holzschnitts zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In den 1960er und 70er Jahren ging das Interesse am Holz- und Linolschnitt zurück, der gegenüber der Video- oder Aktionskunst allzu altmodisch wirkte. Noël gilt als einer der Künstler, die das Medium Ende der 80er Jahre wiederentdeckten. Die Drucktechnik kam Noël entgegen, da der Dialog von Linie und Fläche in seinen Werken zunehmend zum zentralen Bildelement wurde.

Noël entwickelte die traditionell kleinformatigen und schwarz-weißen Drucke jedoch weiter. Seine Holzschnitte sind großformatig und farbig. "Die Linien sehen zwar abstrakt aus, waren aber vorgegeben", erklärt Jacob. Auch hier fand der Künstler seine Linien in Werken Rembrandts oder in seiner Umgebung, in gesprungenen Glasscheiben, Mauerrissen oder eben in den geborstenen Pflasterplatten des World Trade Centers. Häufig druckte Noël auf große Papierbahnen, die er zuvor farbig oder schwarz grundierte. Die Maserung des Holzes wird teilweise bewusst sichtbar gemacht.

Gattungsgrenzen aufbrechen

Holzschnitt und Linoldruck wurden für Noël auch zum Mittel, die Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Druckgrafik und Objekt-Kunst aufzubrechen. So machte er die Druckstöcke teilweise zu eigenen Kunstwerken, bearbeitete sie weiter, bemalte sie oder füllte die eingekerbten Formen mit Gips oder Wachs wieder aus.

Die letzte Schaffensperiode Noëls war von seiner Krankheit geprägt. Da er mit der rechten Hand nicht mehr arbeiten konnte, kamen Holzschnitt oder Linoldruck für ihn nicht mehr infrage. Er kehrte zurück zur Malerei und begann, mit der linken Hand zu malen. Er malte völlig von vorgegebenen Linien losgelöste Bilder. Anders als seine Gemälde aus den 80er Jahren, in denen er viel mit Grau- und Schwarztönen arbeitete, leuchten nun bunte Farben auf hellem Grund. Teilweise malte er pures Licht aus unterschiedlichen Weißtönen.

"Er war dabei überaus glücklich. Und das in dem Wissen, dass er bald nicht mehr da ist", erinnert sich Margarete Noël. Martin Noël starb am 18. November 2010 an einem Hirntumor. Im Laufe seiner kurzen Karriere hatte er zahlreiche Preise erhalten, darunter von der Kunststiftung NRW und vom Deutschen Studienzentrum in Venedig. Er ist mit seinen Arbeiten unter anderem in der Bundeskunstsammlung vertreten.