Oswiecim (epd). "Lebendige Leichen" haben zwei US-Soldaten Menschen wie ihn 1945 bei der Befreiung genannt. Pavel Taussig hatte das NS-Konzentrationslager Auschwitz überlebt, das am 27. Januar vor 75 Jahren von der Roten Armee erreicht wurde. Seine eigene Rettung erlebte Taussig erst am 4. Mai in Gunskirchen in Österreich. Er sei damals dem Tode geweiht gewesen, erzählt der 86-Jährige heute. Die Häftlinge waren geschwächt - von Auschwitz, dem Todesmarsch und dem KZ Mauthausen als Zwischenstation.
Jetzt gab es gar nichts mehr zu essen. Im Wasserfass des Lagers entdeckte Taussig eine Frauenleiche und stellte auch das Trinken ein. Die Schreckensorte verlassen ihn bis heute nicht. In Auschwitz selbst war er vor fünf Jahren zuletzt. "Eigentlich dachte ich, das reicht jetzt", erzählte er am Montag - als er erneut dorthin aufbrach.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte Taussig eingeladen, ihn zur Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Befreiung dorthin zu begleiten. Taussig willigte ein: "So weit habe ich es noch nie gebracht." Am Ende freute er sich auch, dass er Menschen wiedersehen würde, die er seit dem gemeinsamen Transport an den deutschen Schreckensort nicht mehr gesehen hatte.
Überlebende im Mittelpunkt
Rund 200 Holocaust-Überlebende erwartete die Gedenkstätte zum 75. Jahrestag der Befreiung. Die Zeitzeugen werden weniger. Rund 300 waren es noch vor fünf Jahren. Doch ihre Worte über das Erlebte sind noch immer am wirkungsvollsten, um die Dimension der nationalsozialistischen Verbrechen zu begreifen. Bei der Gedenkfeier stehen sie im Mittelpunkt - vier Überlebende halten dort am Montag Reden.
"Wir ringen um Worte, wenn wir das Ausmaß beschreiben wollen", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am historischen Ort. Auch deshalb ließ er bei seiner ersten Reise in die Gedenkstätte von drei Überlebenden begleiten. Gemeinsam mit ihnen, seiner Frau Elke Büdenbender und Vertretern des Zentralrats der Juden besichtigte Steinmeier das Lager am 75. Jahrestag der Befreiung.
In den Morgenstunden des 27. Januar 1945 erreichten Sowjettruppen den Lagerkomplex, in dem die Nationalsozialisten mehr als 1,1 Millionen Menschen umgebracht haben. 7.000 Menschen konnten sie befreien aus dem mit Stacheldrahtzaun umrundeten Gelände nahe der Ortschaft Oswiecim zwischen Katowice und Krakau.
"Ort deutscher Schuld"
Bei der Führung werden Details der Geschichte wieder wachgerufen: Das Giftgas Zyklon B wurde in Auschwitz erstmals eingesetzt, Instrument des industrialisierten Massenmords der Nazis. Rund 80 Prozent der Menschen, die mit Zügen hierhin deportiert wurden, wurden in den Gaskammern unmittelbar ermordet. Krematorien wurden geplant, die 12.000 Menschenleichen pro Tag verbrennen sollten.
Sichtlich berührt legt Steinmeier einen Kranz an der Todeswand, der Exekutionsstätte neben dem lagereigenen Gefängnis ab. Minutenlang hält er mit geneigtem Kopf davor inne.
"Auschwitz ist ein Ort des Grauens und ein Ort deutscher Schuld", schreibt Steinmeier nach seiner Führung in das Gästebuch der Gedenkstätte. "Wer den Weg in die Barbarei von Auschwitz kennt, der muss den Anfängen wehren", heißt es weiter in dem Eintrag. Das sei Teil der Verantwortung, "die keinen Schlussstrich kennt".
"Nationale Raserei"
Auschwitz sei "auch die Mahnung, dass wir erinnern, um im Hier und Jetzt vorbereitet zu sein", sagt Steinmeier danach vor Journalisten und geißelt völkisches Denken, Rassenhass und "nationale Raserei". Wie schon in Israel in der vergangenen Woche schlägt er den Bogen zur Gegenwart - die Zunahme antisemitischer Taten, Tendenzen nationaler Abschottung. Auch die Überlebenden ziehen Parallelen. Bat-Sheva Dagan sagt bei der Gedenkfeier, die Opfer und Überlebenden des Holocaust dürften nie vergessen werden. Ihnen sei man es schuldig, dass Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus nie wieder eine Chance haben.
Und auch Pavel Taussig, der 1968 aus seiner tschechischen Heimat in die Bundesrepublik ausreiste, ist alarmiert. Angesprochen auf heutigen Antisemitismus in Deutschland sagt er, es gebe ja Menschen, die sich dabei weniger Sorgen machen würden. "Ich mache mir mehr Sorgen", sagt er.