Rummel in der Innenstadt: Auf dem Weihnachtsmarkt dreht sich das Karussell zu "Fröhliche Weihnacht überall" und "Oh Tannenbaum", auf den Straßen hupen hektische Autofahrer. Von "Stille Nacht" ist in den Tagen vor Weihnachten in der Regel nichts zu spüren. Rund die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland ist gestresst von dem vorweihnachtlichen Trubel in den Innenstädten, wie eine aktuelle Umfrage der KKH Kaufmännische Krankenkasse ergab. Dabei sehnen sich viele Menschen besonders in der Adventszeit nach Besinnlichkeit und Stille.

Die Realität sieht nicht nur in den Wochen vor Weihnachten meist anders aus. Lärm wird zunehmend zum Problem, wie Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat zeigen. Danach sind die Menschen in kaum einem europäischen Land so genervt von der Geräuschkulisse ihrer Umgebung wie in Deutschland. Knapp 28 Prozent der Bundesbürger ist es permanent zu laut. Im EU-Durchschnitt sind es nur 18 Prozent.

Doch wird es tatsächlich von Jahr zu Jahr lauter, wie viele Menschen meinen? Die Deutsche Gesellschaft für Akustik (DEGA) findet dafür keine Anhaltspunkte. Zwar seien tatsächlich immer noch viel zu viele Menschen vor allem durch Verkehrslärm einem gesundheitsschädlichen Geräuschpegel ausgesetzt, sagt Michael Jäcker-Cüppers, Vorsitzender des Arbeitsrings Lärm der DEGA. Doch tendenziell sei es durch modernere Motoren, bessere Straßenbeläge und Lärmschutzmaßnahmen eher etwas leiser geworden.

Stressniveau steigt

"Aber wir stellen fest, dass die Menschen sich heute bei gleichem Pegel stärker belästigt fühlen als noch vor zehn Jahren." Grund sei wohl ein allgemein gestiegenes Stressniveau, dem die Menschen ausgesetzt seien, mutmaßt der Lärm-Experte.

Oft sei es die große innere Unruhe, die Menschen extrem empfindlich gegen Geräusche werden lasse, beobachtet auch Michael Seitlinger. "In unserem Inneren herrscht oft ein regelrechter Affenzirkus", sagt der Münchner katholische Theologe und Achtsamkeitstrainer. In seinen Seminaren kommt es vor, dass gestresste Teilnehmer sich gelegentlich sogar schon von Vogelgezwitscher in ihrer Ruhe gestört fühlen. Zugleich hätten viele Menschen aber regelrecht Angst vor der Stille, stellt Seitlinger fest.

Ähnliche Erfahrungen macht der Achtsamkeitstrainer und Pädagoge Rüdiger Standhardt aus Gießen. "Die Sehnsucht nach Ruhe ist sehr ambivalent." Einerseits wünschten sich viele Menschen nichts mehr als Stille, weiß Standhardt, der unter anderem Schweigeseminare leitet. "Wenn dann aber die Ruhe eintritt, dann sagen die gleichen Menschen innerhalb kürzester Zeit: 'Die Ruhe macht mich fertig.'" Grund sei, dass die Stille zunächst dazu führe, dass unbewältigte Konflikte oder Fragen ins Bewusstsein rückten. Manche Menschen hielten das nicht aus.

"Achtsamkeit und Ruhe sind keine Wellness-Produkte"

Seitlinger betont: "Achtsamkeit und Ruhe sind keine Wellness-Produkte." Zur Ruhe zu kommen, könne durchaus herausfordernd sein.

Doch es lohne sich, ein gewisses Unbehagen zunächst einmal hinzunehmen, erklärt Standhardt. "Es gibt keinen Umweg, um diese zunächst sehr ernüchternde Phase zu vermeiden." Dann bleibe es aber nicht bei diesem unangenehmen Zustand. Wer sich auf die Stille einlasse, könne zu erholsamer Ruhe finden und neue Tiefen in sich erkunden. Eine stärkere innere Ausgeglichenheit und Ruhe könne dann auch helfen, weniger unter Lärm aus der Umgebung zu leiden, ist auch Seitlinger überzeugt.

Doch wie lässt sich im Alltag zwischen Job, Einkäufen und Haushalt Ruhe finden? "Wichtig ist es, den Autopiloten auszuschalten", sagt Standhardt. Oft stehe man morgens auf und gehe automatisch den vielen Aufgaben nach, die der Tag bereithalte, ohne innezuhalten. Eine Möglichkeit, mehr Ruhe und Achtsamkeit in den Tag zu bringen, seien regelmäßige kurze Pausen. Das sei auch am Arbeitsplatz möglich.

Standhardt empfiehlt, dreimal am Tag jeweils drei Minuten achtsam innezuhalten. Zeitlich sei das durchaus machbar. "Trotzdem ist das für viele erst einmal eine riesengroße Herausforderung", stellt Standhardt fest, wenn er Arbeitnehmer berät.

Innere Einkehr will gelernt sein

Für den Einstieg in das Achtsamkeitstraining empfiehlt er, zunächst einmal mit 15 Minuten Stille am Morgen nach dem Aufstehen zu beginnen. "Wenn sie das zwei Monate durchhalten, merken viele Menschen, dass sie eine heilsame Distanz gewinnen, auch wenn um sie herum alles so verrückt ist wie immer." Mittlerweile gibt es auch zahlreiche Apps, die zu Achtsamkeitsübungen oder Meditationen anleiten.

Entscheidend für den Erfolg sei es, regelmäßig zu üben, sagt Seitlinger. Das wäre dann ein Alternativprogramm zum Dauer-Weihnachtsrummel: Meditation am Morgen - oder ganz klassisch am Adventskranz eine Kerze anzünden und die Stille auf sich wirken lassen. Denn Advent bedeute schließlich "Ankunft", sagt der Theologe. Gemeint ist damit die Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Geburt Jesu Christi. "Wer innehält und achtsam ist, kann aber auch bei sich selbst ankommen", sagt Seitlinger.