Wuppertal, Dortmund (epd). "Flugscham" heißt das Gefühl, das in diesem Sommer etliche Menschen beschleicht, wenn sie in den Flieger steigen. So wie die von der Schwedin Greta Thunberg initiierten "Fridays-for-Future"-Proteste hat sich auch der Begriff - schwedisch: flygskam - nach Deutschland ausgebreitet. Denn: Schon allein ein Hin- und Rückflug von Berlin nach Malaga schlägt nach Angaben von "atmosfair" mit durchschnittlich 1,2 Tonnen Kohlendioxidausstoß im CO2-Fußabdruck zu Buche. Dieser liegt in Deutschland statistisch bei rund neun Tonnen pro Kopf.
Das schlechte Gewissen - eben "Flugscham" - bringt natürlich erst mal nichts: Für die Umwelt ist es egal, ob jemand mit schlechtem Gewissen oder begeistert in den Flieger steigt. Es kommt darauf an, das eigene Verhalten auch wirklich zu ändern. Aber andere an den Pranger zu stellen, wenn sie fliegen? "Meine Erfahrung ist, dass das in der Regel nicht funktioniert", sagt Michael Kopatz vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Die Lösung könne nicht darin liegen, Menschen zum Verzicht aufzufordern. "Das ist kein politisches Konzept."
"Schluss mit der Öko-Moral"
Zwar sei es richtig, so wenig wie möglich zu fliegen, sagte Kopatz, Autor eines Buches mit dem Titel "Schluss mit der Öko-Moral". Nur mit persönlichem Verzicht sei jedoch kein grundlegender Wandel zu erreichen. Entscheidend sei es vielmehr, politische Signale zu setzen, zum Beispiel durch Proteste gegen den Ausbau von Flughäfen wie den in Frankfurt am Main, sagte Kopatz. "Wenn alle die, die im Flugzeug sitzen und ein schlechtes Gewissen haben, nur einmal im Jahr zur Demo nach Frankfurt fahren würden, dann würde es ja schon viel schwerer fallen, den Flughafen auszubauen."
Kopatz findet auch die Häme gegenüber Umwelt-Aktivisten, die selbst Fernflüge antreten, nicht gerechtfertigt. "Man kann Selbstbegrenzung fordern, ohne sich selbst zu begrenzen", ist seine Meinung. Denn Menschen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, wollten die Politik ermuntern, die Strukturen zu verändern. Das könnte etwa durch die Begrenzung der Flugkapazitäten oder durch die Verteuerung von Flügen durch Kerosin- oder CO2-Steuern geschehen. "Und am Ende betrifft mich das ja auch selbst, wenn ich dann nicht mehr so viel fliegen kann."
"Reisen ist das neue Fernsehen"
Eine Begrenzung des klimaschädlichen Flugverkehrs, etwa durch Verteuerung von Flügen sei notwendig, sagt auch der Umweltpsychologe Marcel Hunecke von der Fachhochschule Dortmund. Für eine echte Trendwende reiche das allerdings nicht aus. Vielmehr brauche es einen echten Bewusstseins- und Kulturwandel. "Wir sind derzeit eine Konsum-Erlebnis-Gesellschaft. Reisen ist das neue Fernsehen", sagt Hunecke. Viele Menschen wollten immer schneller immer mehr Reiseziele erreichen, um sich neue Erlebnisse zu verschaffen. "Wenn wir diese Anspruchshaltung nicht in den Griff kriegen, wie soll das dann funktionieren mit einer nachhaltigen Entwicklung?"
Tatsächlich deutet bislang nichts auf eine sinkende Fluglust der Deutschen hin: In den vergangenen zehn Jahren stieg die Zahl der Flugpassagiere laut Statistischem Bundesamt um rund ein Drittel von 166,3 auf 222,5 Millionen. Das Wissen über die Ursachen des Klimawandels und ein allgemeines Umweltbewusstsein scheinen Menschen wenig vom Fliegen abzuhalten. Darauf deutet eine Erhebung des Bundesumweltamtes hin. Danach ist der Energieverbrauch für Urlaubsreisen gerade bei finanziell gut gestellten und kritisch-kreativen Menschen besonders hoch. Insgesamt zeige sich sogar, "dass der Energieverbrauch umso höher ist, je positiver die Umwelteinstellungen sind", heißt es in der Studie.
"Ablass" für das Fliegen?
Das spricht für Huneckes These, dass eine Verteuerung von Flügen allein keinen grundlegenden Wandel herbeiführen kann. Denn wohlhabende Menschen, die bereits jetzt für einen Großteil des CO2-Ausstoßes durch Flüge verantwortlich sind, könnten sich Preissteigerungen auch am ehesten leisten. Höhere Preise etwa durch eine CO2-Steuer oder durch Kompensationszahlungen an Umweltprojekte könnten dann auch als eine Art "Ablass" für das Fliegen betrachtet werden.
Vor diesem Hintergrund sieht Hunecke "Flugscham" durchaus auch positiv: als einen ersten Schritt hin zu einem allgemeinen Bewusstseinswandel, der dann auch zu einer Verhaltensänderung führen kann. Die jungen Leute der "Fridays-for-Future"-Bewegung hätten die von der Wissenschaft schon lange prognostizierte Dramatik der Situation auf die Straße getragen, sagt der Umweltpsychologe: "Im Moment sieht es wirklich gut aus, dass so ein kultureller Wandel startet. Auch weil immer mehr Menschen in der Mitte der Gesellschaft von dem 'immer mehr, immer schneller' genug haben."